Gabriel kündigt neuen Türkei-Kurs an: Erdogan greift Bundesregierung scharf an
Die Bundesregierung verschärft die Reisehinweise und überprüft Wirtschaftshilfen. Ankara sieht darin eine "große politische Verantwortungslosigkeit".
Nach den jüngsten Festnahmen von Menschenrechtlern – darunter einem weiteren Bundesbürger - eskaliert der Streit zwischen Deutschland und der Türkei. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), der wegen der jüngsten Entwicklungen seinen Urlaub unterbrochen hatte, verkündete am Donnerstagmorgen im Auswärtigen Amt (AA) in Berlin eine "Neuausrichtung" der Politik der Bundesregierung gegenüber der türkischen Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Dies sei mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) abgesprochen. Merkel ließ die von Gabriel angekündigte Neuausrichtung der deutschen Politik als "notwendig und unabdingbar" bezeichnen. Das teile Regierungssprecher Steffen Seibert über Twitter mit.
Erdogan wies die deutsche Reaktion als unbegründet und unannehmbar zurück. Der Sprecher des Präsidenten, Ibrahim Kalin, warf der Bundesregierung der eine "große politische Verantwortungslosigkeit" vor. Die Äußerungen von Gabriel seien unglücklich und innenpolitisch motiviert, sagte Kalin, am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in Ankara. Deutschland müsse sich rational verhalten. Erklärungen über Wirtschaftsmaßnahmen, die auf politischen Motiven basierten, seien unannehmbar, Sicherheitsbedenken für Reisen in die Türkei unbegründet. "Wir hoffen, dass sie Abstand davon nehmen", sagte Kalin. Die Türkei habe gute Beziehungen zu Deutschland und wolle diese beibehalten.
"Unsere Beziehungen können nicht auf der Grundlage von Erpressungen und Drohungen fortgesetzt werden, sondern nur mittels international anerkannter Normen und Prinzipien", erklärte das türkische Außenministerium am Donnerstag und kündigte „die nötigen Reaktionen“ auf die Bemühungen an, aus „innenpolitischen Absichten und Türkei- sowie Türkenfeindlichkeit“ Profit zu schlagen. Zugleich hieß es in der Erklärung auch, dass die Türkei die Bundesrepublik weiter als ein "verbündetes Land und Freund" betrachten wolle.
Auch Wirtschaftshilfen sollen überprüft werden
Außenminister Gabriel hatte gesagt, der Fall des in der Türkei inhaftierten Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner zeige, dass in der Türkei deutsche Staatsbürger vor willkürlichen Verhaftungen nicht mehr sicher seien: "Wir können daher gar nicht anders, weil wir dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verpflichtet sind, als unsere Reise- und Sicherheitshinweise in die Türkei anzupassen."
Auf der Website des Auswärtigen Amtes wird deshalb allen deutschen Reisenden zu "erhöhter Vorsicht" geraten. "Wir können nicht so weitermachen wie bisher", sagte Gabriel. Auch Investitionskredite und Wirtschaftshilfen wie Hermes-Bürgschaften müssten überdacht werden, genauso Vorbereitungshilfen der EU für einen Beitritt.
"Man kann niemandem zu Investitionen in ein Land raten, wenn es dort keine Rechtssicherheit mehr gibt und sogar Unternehmen, völlig unbescholtene Unternehmen, in den Nähe von Terroristen gerückt werden." Es habe bereits Beispiele von Enteignungen gegeben, sagte Gabriel. Mit Hermes-Bürgschaften sichert der Staat Auslandsgeschäfte von Unternehmen gegen Ausfälle ab.
Deutschland habe sich bisher zurückgehalten, sagte Gabriel
Die Festnahme des deutschen Beraters der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Peter Steudtner, sei eine "geplante und gut vorbereite Aktion" der türkischen Regierung gewesen. "Die Vorwürfe des Terrorismus seien unbegründet und an den Haaren herbeigezogen", sagte Gabriel. Weitere neun Deutsche seien ohne Grund inhaftiert. Dies sei nicht hinnehmbar.
Die türkische Staatsanwaltschaft wirft den Inhaftierten vor, eine "bewaffnete Terrororganisation" zu unterstützen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte sie zuvor in die Nähe von Putschisten gerückt.
Im Zusammenhang mit dem Putschversuch in der Türkei vor einem Jahr sind dort nach Erkenntnissen der Bundesregierung bislang 22 deutsche Staatsbürger festgenommen worden. Aktuell seien noch 9 in Haft - darunter der deutsch-türkische "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel sowie die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu Corlu.
Deutschland wisse um das Befinden der Türken nach dem gescheiterten Putschversuch, sagte Gabriel. Daher habe trotz aller Provokationen partnerschaftliches Verhalten im Vordergrund gestanden. "Wir haben uns bewusst zurückgehalten", sagte Gabriel. Auch weil drei Millionen Menschen aus der Türkei in Deutschland lebten. Besonders mit Blick auf sie habe die Bundesregierung immer wieder versucht, einen Neuanfang in den Gesprächen mit der türkischen Regierung zu suchen.
Am Tag zuvor war der türkische Botschafter ins AA zitiert worden
Am Tag zuvor war der türkische Botschafter ins AA zitiert worden. Dem türkischen Botschafter seien "ohne diplomatische Floskeln" die Empörung der Bundesregierung "und die damit verbundenen glasklaren Erwartungen" übermittelt worden, sagte Außenamts-Sprecher Martin Schäfer danach. "Die Bundesregierung fordert die unverzügliche Freilassung von Peter Steudtner und sofortigen ungehinderten konsularischen Zugang, fügte er hinzu. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan wisse nun, "dass es uns ernst ist".
"Die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin persönlich verurteilt die Inhaftierung unseres Landsmanns Peter Steudtner scharf", sagte auch Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch. Die gegen Steudtner und die anderen Menschenrechtsaktivisten erhobenen Vorwürfe seien "ein durchschaubarer Versuch, Andersdenkende zu diskreditieren".
Das türkische Außenministerium erklärte am Donnerstag, die deutschen Äußerungen zur Festnahme von Menschenrechtsaktivisten vom Mittwoch seien nicht akzeptabel. "Das war eine direkte Einmischung in Angelegenheiten der türkischen Justiz." Zudem sei mit den von deutscher Seite gewählten Äußerungen eine Grenze überschritten worden.
Eine richtige Reisewarnung gibt es weiterhin nicht
Reisehinweise veröffentlicht das Auswärtige Amt im Internet für jedes Land und aktualisiert sie regelmäßig. Die schärfere Stufe ist allerdings eine Reisewarnung, bei der es um eine konkrete Gefahr für Leib und Leben geht: Deutsche, die in dem betroffenen Land leben, werden dann gegebenenfalls zur Ausreise aufgefordert; Urlauber können gebuchte Reisen leichter stornieren.
In den neuen "Aktuellen Hinweisen" heißt es auf der Seite des AA nun, privat oder geschäftlich Reisenden in der Türkei werde "zu erhöhter Vorsicht geraten und empfohlen, sich auch bei kurzzeitigen Aufenthalten in die Listen für Deutsche im Ausland bei Konsulaten und der Botschaft einzutragen".
Grund dafür sei, dass "in einigen Fällen Deutsche von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen" gewesen seien, "deren Grund oder Dauer nicht nachvollziehbar war". Teilweise sei der konsularische Zugang "entgegen völkerrechtlicher Verpflichtung" verweigert worden.
Noch mehr deutschen Firmen wird Terrorhilfe vorgeworfen
Zu der Überprüfung der Hermes-Bürgschaften sagte Gabriel weiter, er sehe nicht, "wie wir als Bundesregierung weiter deutsche Unternehmensinvestitionen in der Türkei garantieren können, wenn - wie geschehen - willkürliche Enteignungen aus politischen Motiven nicht nur drohen, sondern wie gesagt schon erfolgt sind." Es müsse daher darüber geredet werden, wie der Hermes-Bürgschaftsrahmen entwickelt werde und wie mit Investitionskrediten und mit Wirtschaftshilfe umgegangen werde.
Mit Blick auf eine Liste der Türkei, mit der auch prominente deutsche Unternehmen der Terrorunterstützung beschuldigt werden, sagte Gabriel: "Die Liste ist sogar noch viel länger." Einem Medienbericht zufolge soll die türkische Regierung den deutschen Behörden eine weitere Liste mit angeblichen Terrorunterstützern übergeben haben, auf der sich erstmals auch deutsche Firmen befinden. Auf der Liste stehen nach Informationen der "Zeit" Namen von insgesamt 68 Unternehmen und Einzelpersonen, darunter auch Daimler und BASF.
Die von Gabriel geforderte Überprüfung von EU-Zahlungen an die Türkei muss nach Angaben der EU-Kommission im Kreis der Mitgliedstaaten diskutiert werden. "Alle Finanzierungsentscheidungen werden gemeinsam von den Mitgliedstaaten getroffen", sagte ein Sprecher am Donnerstag in Brüssel. Schon heute würden EU-Finanzhilfen lediglich in sorgfältig ausgesuchte Bereiche fließen. (mit dpa, Reuters)
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