Steht Biden nicht weit genug links?: Er sitzt noch nicht im Weißen Haus, da gärt es schon unter den Demokraten
Krankenversicherung und Klima: Der linke Flügel möchte seine Agenda durchsetzen. Die Moderaten dagegen wollen keine Wähler der Mitte verprellen.
Es gibt eine These in Washington, die zeigt, was auf Joe Biden zukommt. Sie lautet: Eigentlich wäre es dem President-elect wohl am liebsten, wenn die Demokraten die zwei Senats- Nachwahlen im Bundesstaat Georgia im Januar gar nicht gewinnen. Denn wenn sie es schaffen, dann würde der Druck auf Biden sogar noch größer – und zwar der Druck aus seiner eigenen Partei.
Gewinnen die demokratischen Kandidaten Jon Osoff und Raphael Warnock am 5. Januar, würden die Demokraten im Senat künftig über 50 Stimmen verfügen – genauso viele wie die Republikaner. Die entscheidende Stimme käme dann von Vizepräsidentin Kamala Harris. Was erst mal wie ein großer Sieg wirkt, würde aber auch die Erwartungshaltung bestärken, dass diese Mehrheit für ambitionierte politische Projekte genutzt werden müsse.
Dass der linke Flügel der Demokraten, der sich im Wahlkampf treu hinter Biden gestellt hatte, nun seine Belohnung einfordert, war zu erwarten. In Biden und Harris haben zwei moderate Vertreter der Demokraten die Wahl gewonnen – mit der engagierten Hilfe der Parteilinken.
Nina Turner, ehemalige Co-Vorsitzende von Bernie Sanders’ Präsidentschaftskampagne, hat das in einem Beitrag für die „Washington Post“ klar benannt: „Die Arbeiter haben Biden den Sieg beschert. Nun muss er deren Erwartungen erfüllen“, schreibt sie.
Die Parteilinke reklamiert Wahlsieg für sich
Die Parteilinke fürchtet, dass das Narrativ, die Wahl sei in der Mitte, in den wohlhabenden „weißen Vororten“ und mit Hilfe enttäuschter Republikaner gewonnen worden, sich durchsetzt. Turner besteht darauf: Die „schwarzen, braunen und weißen“ Arbeiterfamilien, die weniger als 100.000 Dollar im Jahr verdienten, sowie die Jungen hätten den Wahlsieg ermöglicht.
Sie hätten an Türen geklopft, Wähler abtelefoniert und die harte Arbeit mitten in einer Pandemie übernommen. „Diese Wähler sind Herz und Zukunft einer massiven progressiven Bewegung innerhalb und außerhalb der Demokratischen Partei, und ihnen müssen Joe Biden und Kamala Harris gerecht werden.“ Ähnlich äußerte sich auch Sanders selbst.
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Bei allem Jubel über den Biden/Harris-Wahlsieg: Nicht jeder in der Partei ist ein Fan von ihnen. So hat etwa die junge Kongressabgeordnete aus New York, Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), nie für sich behalten, wie wenig sie von gemäßigten Politikern wie diesen hält. In den vergangenen zwei Jahren hat die neben Sanders und Elizabeth Warren inzwischen wohl prominenteste Stimme der Progressiven auch die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi, gehörig unter Druck gesetzt.
Kompromissbereitschaft ist nicht ihre Sache
Nun gibt sie Interview um Interview, um darauf zu pochen, dass die Partei endlich Großprojekte wie eine staatliche Krankenversicherung für alle („Medicare for All“) und einen „Green New Deal“ als Antwort auf den Klimawandel und die daraus folgenden wirtschaftlichen Ungleichheiten angeht sowie deutlich stärker gegen den „strukturellen Rassismus“ in der Gesellschaft kämpft.
Das Problem ist nur: Knappe Mehrheiten erfordern Kompromissbereitschaft – für AOC und ihre Anhänger ein Unwort. „Wenn die Partei das Signal sendet, es seien die konservativen Mitte-Demokraten gewesen, die diese Wahl gewonnen haben, nachdem Biden in Detroit 94 Prozent bekommen hat, nachdem schwarze Organisatoren die Wahlbeteiligung in Georgia verdoppelt und verdreifacht haben, nachdem so viele Leute in Philadelphia geackert haben – ich finde keine Worte, um zu beschreiben, wie gefährlich das wäre“, sagte sie der „New York Times“.
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Biden mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Senat und als Vizepräsident setzt aber darauf, das Land zu einen und nicht weiter zu spalten. Er hofft auf die Kompromissbereitschaft der Republikaner – und muss gleichzeitig Teile seiner eigenen Partei von seinem Kurs überzeugen. Die Aufgaben des selbst ernannten Brückenbauers sind gigantisch.
Moderate warnen vor Sozialismus-Rhetorik
Moderate Abgeordnete wie Abigail Spanberger aus Virginia, die ihren Wahlkreis 2018 einem Republikaner abnahm, hoffen, Bidens Kurs setzt sich durch – und nicht der der Linken, der dazu beigetragen habe, dass die Mehrheit der Demokraten im Repräsentantenhaus geschrumpft ist.
In einer Telefonkonferenz, über die die „Washington Post“ berichtete, sagte sie, dass deren Gerede über „Sozialismus“ und „defund the police“ für die Verluste verantwortlich sei. Die Demokraten sollten „nie wieder die Worte ,Sozialist‘ oder ,Sozialismus‘ benutzen“.
Schon jetzt nutzen die Republikaner genau diese Rhetorik für ihren Wahlkampf in Georgia. Mit einer demokratischen Senatsmehrheit drohten „linke“ Politikvorhaben wie ein teurer „Green New Deal“ und „Medicare for All“, argumentieren sie. Und diese lehne die Mehrheit ab.
Die alten Konfliktlinien in der Demokratischen Partei, die nach den Vorwahlen für einen Wahlsieg Bidens zugedeckt wurden, werden wieder sichtbar. Das wird sich auch auf die Entscheidung Bidens auswirken, wen er in Kabinett und andere Führungspositionen beruft.
Die Erwartungen der Linken, dass die Senatoren Sanders und Warren, die im Vorwahlkampf unterlegen waren, für ihre Treue belohnt werden (Sanders mit dem Arbeits-, Warren mit dem Finanzministerium), könnten enttäuscht werden.
Auswirkungen auf Bidens Personalentscheidungen
Denn: Sollten die Republikaner im Senat weiter die Mehrheit stellen, würden sie bei wichtigen Personalentscheidungen mitreden. Dass der bisherige und wohl auch künftige Mehrheitsführer Mitch McConnell sein Okay zu prominenten Linken gibt, kann fast ausgeschlossen werden.
Sollten die Demokraten wiederum eine Ein-Stimmen-Mehrheit (mit Harris’ Stimme) haben, können sie es sich nicht leisten, Senatoren zu verlieren. Über die Nachfolge von Sanders und Warren würden die Gouverneure ihrer Heimatstaaten Vermont und Massachusetts entscheiden. Und die sind Republikaner.
Interessant wird zudem sein, auf wie viel Widerstand Pelosi bei ihrem Vorhaben stoßen wird, demokratische Mehrheitsführerin im Repräsentantenhaus zu bleiben. Schon nach den Zwischenwahlen 2018 versuchte der AOC-Flügel, eine Wiederwahl der inzwischen 80-Jährigen zu verhindern.