Reaktionen auf Schäubles Tagesspiegel-Interview: „Das klassische Dilemma der Ethik“
Denkanstoß oder Zynismus? Wolfgang Schäubles Mahnung, Leben gegen Menschenwürde abzuwägen, löst Debatten im In- und Ausland aus.
Boris Palmer interpretiert Wolfgang Schäuble auf seine Weise. „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, sagt der Grünen-Politiker im Sat.1-Frühstücksfernsehen. Da könnte manchem Pflege- und Altenheimbewohner das Brötchen im Halse stecken bleiben. Aus Sicht des Oberbürgermeister Tübingens sind die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns gravierender und könnten das Leben zum Beispiel von armutsbedrohten Kinder kosten.
Das Beispiel zeigt, warum die teilweise aus dem Kontext gerissene Aussage von Bundestagspräsident Schäuble im Interview mit dem Tagesspiegel („Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“) so viel Widerhall findet. Maßstäbe verschieben sich, hin zu einer „Alles-übertrieben“-Stimmung. Bei FDP, AfD, aber eben auch bei Palmer, dessen jüngstes Buch („Erst die Fakten, dann die Moral“) bezeichnenderweise von FDP-Chef Christian Lindner vorgestellt worden ist. Zentrale These: Die Politik folgt zu oft Stimmungen, nicht der Wirklichkeit.
Feindbild Virologe
Es ist, als hätten viele nur auf so einen Satz gewartet. Schäuble ist seit 1972 Mitglied des Bundestags, diente viele Jahre als Minister, hat eine ganz besondere Beziehung zu Kanzlerin Angela Merkel und enormen Einfluss, vor allem in der Union. Er ist ein Profi und weiß genau, was er als Meister der Ein-Satz-Botschaften auslösen kann. Als die Stimmung in der Flüchtlingskrise 2015 kippte, sagte Schäuble: „Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt“. Das wurde gemeinhin als Kritik am Kurs der Kanzlerin interpretiert.
Im aktuellen Fall ist es komplizierter, Schäuble hat an mehreren Stellen die Kanzlerin gelobt und ihren Kurs gestützt. Auch die Regierung Merkel ordnet ja nicht alles dem Schutz des Lebens unter, sonst hätten praktisch alle auf unbestimmte Zeit eingesperrt werden müssen. Aber die Aussagen fallen in eine Stimmung, wo Virologen von nicht wenigen Bürgern zum Feindbild erklärt werden und die dramatischen Folgen der Einschränkungen in den Fokus rücken. Der Ethiker Dominik Enste vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln, formuliert das Dilemma so: „Es gibt Zielkonflikte“.
Dabei stehe auch im normalen Alltag der Schutz des Lebens nicht über allem. „Wir erlauben Tempo 50 in Städten, auch wenn bei Schritttempo der Schutz des Lebens deutlich höher wäre; aber die Freiheit würde sehr stark eingeschränkt“. Auch in einer Pandemie solle der Schutz des Lebens nicht unreflektiert über allem stehen. Außerdem erhöhe die Erreichung anderer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ziele vielfach den Schutz der Gesundheit wie zum Beispiel Bildungsgerechtigkeit, aber auch Wirtschaftswachstum: „Länder mit einem höheren Bruttoinlandsprodukt haben eine höhere Lebenserwartung und können mehr Geld in ihr Gesundheitssystem investieren.“
Ethiker: Offene Debatte, damit die Akzeptanz erhalten bleibt
Man könne den Eindruck gewinnen, die Mahnung Schäubles sei notwendig gewesen, weil die Exekutive die anderen Werte nachrangig behandelt habe, meint Enste: Dass die Politik den Fokus fast ausschließlich auf die Expertise der Virologen und das Ziel gerichtet habe, den Tod von Menschen durch Covid-19 zu vermeiden, habe dafür gesorgt, dass andere Lebensrisiken aus dem Blick geraten seien wie etwa die Behandlung anderer Krankheiten. „Außerdem stehen die Milliarden Euro, die nun aufgrund des Shutdowns für die Rettung von Arbeitsplätzen aufgewendet werden, für viele andere Maßnahmen des Staates nicht zur Verfügung, die (indirekt) auch Menschenleben retten - wie die Erforschung oder Behandlung anderer Krankheiten, die Suche nach Impfstoffen“, mahnt der Kölner Professor.
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Schäuble habe einfach geschickt auf das klassische Dilemma der Ethik verwiesen, ohne sich klar zu positionieren. Grundsätzlich stehe Deutschland in der Denktradition von Immanuel Kant, bei der eine Abwägung von Menschenleben gegeneinander verboten ist. Im Gegensatz dazu stehe die utilitaristische Ethik, bei der es darum gehe, das größte Glück der größten Zahl zu erreichen und dabei Kosten- und Nutzenabwägungen gefordert seien. „Die Pandemie ist nun wie ein Brennglas und zeigt, zum Beispiel bei der Triage, dass ohne Abwägen nur Würfeln oder der Zufall bleibt“, urteilt der Ökonom.
In Ländern wie Frankreich, Irland, Österreich, USA aber auch Dänemark akzeptierten die Bürger das Abwägen sehr viel mehr als in Deutschland. Schäubles Anstoß sei hilfreich, urteilt der Professor: „Eine offene Debatte ist dabei aus meiner Sicht eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Freiheitseinschränkungen auch weiterhin auf eine so breite Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen.“ Das macht Merkel bisher nicht - sie sieht sich immer häufiger des Vorwurfs einer Bevormundungspolitik ausgesetzt.
"Risse im deutschen Konsens"
Auch in Ländern wie Italien wird die Schäuble-Debatte genau verfolgt. Der Deutschland-Korrespondent des "Corriere della sera" sieht die Äußerungen des Bundestagspräsidenten als Zeichen, dass "die Beschränkungen von persönlicher Freiheit und Datenschutz in Deutschland zu einem zentralen und spaltenden Thema" würden.
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Schäubles Warnung sei da nur "die deutlichste und bezeichnendste". Die Äußerungen von Schäuble – der auch die Beteiligung des Bundestags an den Entscheidungen zur Wiederöffnung einfordert – klingen wie eine indirekte Kritik an Angela Merkel, die vor einer Woche hinter verschlossenen Türen in der CDU von „Öffnungsdiskussionsorgien“ sprach. Die Nachrichtenagentur Ansa bilanzierte: „Kanzlerin Angela Merkel hat es mit ersten Rissen im Konsens der öffentlichen Meinung zu tun.“
Im rechten politischen Spektrum widmet man sich dem moralischen Gehalt des Interviews. Der Online-Chef der weit rechts stehenden Tageszeitung "Libero" nennt Schäubles Worte in seinem Blog „einigermaßen radikal“, mutig und „in diesen Tagen revolutionär“. Es sei ihm fast unangenehm, es zu sagen, „aber alles in allem bin ich vollständig seiner Meinung.“ Ganz anders der Schäuble-Kommentar von "Il Giornale", der sogar auf der ersten Seite des Blatts angerissen wurde. Der Autor wirft Schäuble vor, die Menschenwürde, die er meine, "stellt sich über eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung her". Schäuble sei ein "verdienter Vorkämpfer eines Europa, das mehr ans Geld denkt als daran, was die Würde des Lebens ausmacht".