Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl: Einer muss es machen bei der SPD
Gabriel, Schulz oder Scholz: Noch hat die SPD nicht entschieden, wen sie gegen Angela Merkel ins Rennen um das Kanzleramt schickt. Die Stärken und Schwächen der Kandidaten.
Er hat es in der Hand, aber was er in der Hand hat, ist nicht allzu viel. Wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel Kanzlerkandidat werden will, dann wird er es. Das Recht des ersten Zugriffs macht die Entscheidung für den 57-Jährigen selbst aber nicht einfacher, im Gegenteil. Der SPD-Vorsitzende kennt die Umfragen und weiß deshalb genau: Als Person wird er die Mehrheit der Wähler nur schwer überzeugen können. Unzuverlässig und wankelmütig – bei vielen steht das Urteil fest. Gabriel weiß aber auch: Verzichtet er auf die Kandidatur, verliert er den SPD-Vorsitz. Eine große politische Karriere wäre von einem Tag auf den anderen zu Ende.
Wahlkampf-Talent
Eines ist sicher: Gabriel wäre als Kanzlerkandidat ein leidenschaftlicher Wahlkämpfer. Keiner in der SPD hat ein feineres Gespür für Stimmungen, keiner wittert große Themen so schnell wie er. Und keiner kann so mitreißende Reden halten wie der Instinktpolitiker aus Goslar, jedenfalls wenn er einen guten Tag hat. Gabriel kann Pathos, und er kann Attacke. Aber kann er auch Kurs halten, notfalls gegen Widerstände und über Monate hinweg? Bis in die SPD-Spitze hinein gibt es daran Zweifel. Die Befürchtung: Gabriel könnte im Wahlkampf widersprüchliche Botschaften setzen und so SPD-Anhänger verwirren.
Kanzlertauglichkeit
Wie man ein Regierungsamt führt, braucht dem ehemaligen Ministerpräsidenten, Ex-Bundesumweltminister und aktuellen Wirtschaftsminister niemand zu erklären. Zweifel an seiner Befähigung zum Kanzler gibt es trotzdem, auch in der SPD. Wie oft bei Gabriel geht es um Charakterfragen. Hätte er als Regierungschef sein Temperament im Griff? Würde er an einmal getroffenen Entscheidungen festhalten, auch wenn es schwerfällt? Und wie ginge er mit Phasen von Erfolglosigkeit und Kritik um? Gabriels Anhänger sagen: Das hohe Amt habe noch jeden seiner Inhaber diszipliniert.
Bataillone
Viele drängen Gabriel zur Kandidatur, sei es aus Überzeugung, sei es aus taktischen Erwägungen. Wichtigste Fürsprecher: die Genossen aus NRW um Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Ihr Motiv: Die K-Frage soll den Wahlkampf an Rhein und Ruhr vor der Abstimmung im Mai nicht überlagern, sondern rasch geklärt werden. Auch für Gabriel: der DGB, große Einzelgewerkschaften und Berlins Regierender Michael Müller.
Prognose
Ich mach’ es, ich mach’ es nicht: Lange war Gabriel hin- und hergerissen. Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass er sich zur Kandidatur entschlossen haben könnte – den niedrigen Umfragewerten zum Trotz. Gerade in jüngster Zeit konnte der SPD-Chef große Erfolge einfahren. Er hat der Partei ein Ja zu Ceta abgerungen, Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsidenten durchgeboxt und tausende Jobs bei Kaiser’s Tengelmann gesichert. In der Parteiführung heißt es, die Wahrscheinlichkeit, dass der Vorsitzende Merkel herausfordern werde, liege inzwischen bei 70 Prozent. Tendenz: steigend.
Der Herzens-Europäer: Martin Schulz
Der scheidende EU-Parlamentspräsident ist gleichsam über Nacht zum Hoffnungsträger vieler Sozialdemokraten geworden. Ein Herzens-Europäer, der Haltung zeigt und den die einfachen Leute verstehen – allein die Vorstellung, Martin Schulz könne antreten, beflügelt die Fantasie. Bessere Umfragewerte als Gabriel hat er ohnehin. Darin liegt seine Chance. Je größer die Erfolgsaussichten von Schulz, umso größer der Druck auf Gabriel, zugunsten des Publikumslieblings zu verzichten. Aber: Schulz ist nicht mehr Herr über seine politische Zukunft. Er kann nur abwarten, bis sein Parteivorsitzender sich endlich entschieden hat.
Wahlkampf-Talent
Als Redner ist er fast so gut wie Gabriel, manchmal sogar besser. Und er weckt bei den Genossen den Stolz auf Grundwerte und Geschichte. Martin Schulz erinnert die Sozialdemokraten an ihre Tradition, dem Nationalismus als solidarische Kraft die Stirn zu bieten. Das macht einen Teil der Begeisterung aus, die er bei Auftritten an der SPD-Basis auslöst. Allerdings: Keiner weiß, wie sattelfest der langjährige Europapolitiker bei innenpolitischen Themen ist. Ein SPD-Kanzlerkandidat, der zum Beispiel in der Rentenpolitik nicht genau Bescheid weiß, wäre schnell unten durch. Bei den Genossen und den Wählern.
Kanzlertauglichkeit
Regiert hat Martin Schulz bisher nur seine Heimatstadt: Der frühere Buchhändler war mehr als zehn Jahre Bürgermeister von Würselen bei Aachen (39000 Einwohner). Zu wenig Erfahrung fürs Kanzleramt, sagen manche in der SPD. Politischer Profi ist der 60Jährige trotzdem. Innerhalb Europas besser vernetzt als jeder andere deutsche Politiker, hat er heikle Verhandlungen zum Erfolg geführt – und zuletzt das Freihandelsabkommen Ceta mit Kanada gerettet. Als Präsident erkämpfte er für das Europaparlament erstmals großen Einfluss. Abitur hat er nicht, spricht dafür aber fünf Sprachen.
Bataillone
Ausgerechnet in Sigmar Gabriels Landesverband, der Niedersachsen-SPD, sitzen die größten Fans von Martin Schulz. Ministerpräsident Stephan Weil hat sogar öffentlich für ihn geworben. Hintergrund: Gabriel ist bei den Landes-Genossen als unberechenbar verschrien. Als weitere Schulz-Unterstützer gelten SPD-Vize Ralf Stegner und andere Parteilinke, außerdem der Landesverband Baden-Württemberg und die Jusos.
Prognose
Der ehrgeizige Europapolitiker muss sich voraussichtlich mit dem Außenministerium begnügen. Kanzlerkandidat kann er ohnehin nur werden, wenn Gabriel verzichtet. In diesem Fall könnte es zum Machtkampf mit Olaf Scholz kommen. Bei einer Urwahl des Kanzlerkandidaten hätte Schulz als momentaner Liebling der Basis wohl bessere Karten. Aber: Ob es dann überhaupt zu einer Mitgliederbefragung käme, ist fraglich. Die mächtige NRW- SPD will vor der Landtagswahl Personaldiskussionen vermeiden, würde deshalb alle Hebel in Bewegung setzen, um das langwierige Verfahren zu verhindern.
Das Nordlicht: Olaf Scholz
Ihn zu unterschätzen, wäre riskant. Olaf Scholz betont zwar gern, er wolle sich im Jahr 2020 wieder um das Bürgermeisteramt in Hamburg bewerben. In der SPD gilt trotzdem als sicher, dass der Parteivize als Kandidat bereitstünde, wenn er gerufen würde. An Selbstbewusstsein mangelt es Scholz nicht. Seine Ansage: Mit dem richtigen Spitzenmann könne die SPD 2017 mehr als 30 Prozent holen. Er selbst stünde aber nur zur Verfügung, wenn ihm zugleich der Parteivorsitz angetragen würde. Scholz hat wenig zu verlieren. Kommt er jetzt nicht zum Zug, bietet sich 2021 die nächste Chance. Dann wäre er 63, bestes Kanzleralter.
Wahlkampf-Talent
Bei allen Vorzügen: Dass Olaf Scholz Säle rocken kann, behaupten nicht einmal seine größten Fans. Logisch, rational, kontrolliert – so macht der stellvertretende SPD-Vorsitzende Politik. Emotionen zu wecken, ist nicht seine Stärke. Rhetorisch bleibt er weit hinter Gabriel und Schulz zurück. Als Generalsekretär unter Gerhard Schröder stanzte er eine Schablone nach der anderen und wurde deswegen „Scholzomat“ genannt. In Hamburg gilt der Politikstil des Bürgermeisters als Ausweis von Seriosität. Südlich der Mainlinie könnten viele den Hanseaten dagegen für blasiert und langweilig halten.
Kanzlertauglichkeit
Als Wahlkämpfer mag Olaf Scholz Defizite haben, das Zeug zum Kanzler sprechen ihm auch die schärfsten Kritiker in der SPD nicht ab. Lernte sein Handwerk als SPD-Generalsekretär und Fraktionsgeschäftsführer. Federte als Bundesarbeitsminister mit dem Kurzarbeitergeld die Folgen der Finanzkrise ab. Der Hamburger Bürgermeister steht in den Augen seiner Anhänger nun für Zuverlässigkeit und Führungsstärke in der Politik. Sein Credo: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.“ Ein Kanzler muss allerdings viel größeren Druck aushalten als der Chef eines Stadtstaats. Das weiß auch die SPD.
Bataillone
Sein Intellekt und sein Fleiß werden in der SPD hoch geachtet, aber die Partei liebt ihn nicht. Kann mit Unterstützung von Arbeitsministerin Andrea Nahles rechnen, die in der SPD immer noch bestens vernetzt ist. Auch Hessens SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel schätzt Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit des Hamburgers. Eine eigene Hausmacht hat Scholz nicht. Sein Landesverband ist schlicht zu klein.
Prognose
Viele hatten den dritten Mann gar nicht mehr auf dem Zettel. Doch ausgeschlossen ist es nicht, dass Olaf Scholz am Ende als Überraschungssieger aus dem SPD-Kandidatenspiel hervorgeht. Dann nämlich, wenn Gabriel verzichten und sich gegen Schulz entscheiden sollte. Unvorstellbar? In der SPD wird genau registriert, dass die Freundschaft zwischen Gabriel und Schulz in den vergangenen Wochen gelitten hat. Der Vorsitzende, so heißt es, suche jetzt immer häufiger den Kontakt zum Hamburger Scholz. Dessen Chance: Ein Bündnis der NRW- SPD mit dem Nahles-Netzwerk hebt ihn am Ende auf den Schild.
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Stephan Haselberger, Hans Monath