Brasiliens Präsident: Einer, der spaltet
Seit einem Jahr ist Jair Bolsonaro Präsident Brasiliens. Unter ihm ist das Land nach rechts gerückt – und die politischen Gräben sind tiefer denn je.
Jair Bolsonaro hat sein erstes Jahr als brasilianischer Präsident so beendet, wie er es begonnen hat: mit einem Angriff auf seine Erzfeinde, die Linken oder diejenigen, die er dafür hält. Nun traf es einen, der sich nicht mehr wehren kann.
Paulo Freire (1921-1997) war einer der einflussreichsten Pädagogen des 20. Jahrhunderts. Aber Brasiliens Rechte hasst Freire und macht ihn für die angeblich „linke Hegemonie“ an Schulen und Universitäten verantwortlich. Präsident Bolsonaro begründete jetzt den Finanzierungsstopp für einen Bildungssender damit, dass der Kanal von „diesem Idioten“ Paulo Freire beeinflusst sei und zu viel „Gender-Ideologie“ verbreite.
Damit hatte Bolsonaro wieder einmal erreicht, was er wollte. Brasiliens progressiver Teil regte sich fürchterlich auf und versuchte zu beweisen, dass der „Idiot“ nicht Freire mit seinen 35 Ehrendoktortiteln, sondern Bolsonaro sei. Dessen Unterstützer hingegen feierten ihren „unbeugsamen“ Präsidenten dafür, dass er es den „Marxisten“ wieder mal gezeigt habe.
Er attackiert Merkel und Leonardo di Caprio
So geht das seit einem Jahr. Fast wöchentlich gibt Brasiliens Staatsoberhaupt Beleidigungen, Lügen und Halbwahrheiten von sich. Ziele seiner Attacken waren unter anderen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzlerin Merkel, die Klimaaktivistin Greta Thunberg und Leonardo di Caprio. Letzterer finanziere laut Bolsonaro Umwelt-NGOs, die den Amazonaswald ansteckten, um Brasilien schlecht aussehen zu lassen. Das wohl Erschreckendste daran: Nicht wenige Brasilianer glauben das.
Es wäre nun aber völlig falsch, wenn man das erste Regierungsjahr Bolsonaros als bloße Reihung von Skurrilitäten eines rechten Spinners abtäte. Die Regierung war ohne ein klares Projekt gestartet – wenn man davon absieht, dass Bolsonaro versprach, das Land von Linken zu säubern und Gott wieder seinen Stellenwert zu geben. Aber im Lauf der Monate schälten sich dann doch drei große politische Vorhaben heraus: Die Liberalisierung der Wirtschaft, die Öffnung der Amazonasregion für die ökonomische Ausbeutung sowie die Umgestaltung des Bildungssystems und des Kultursektors.
Der Graben zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden
Was die Wirtschaft angeht, so ist Brasilien nach der schweren Krise, die 2012 begann, aus dem Gröbsten heraus. Erstmals wächst die Wirtschaft wieder leicht und die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Für 2020 wird ein weiteres Wachstum erwartet. Allerdings ist die Arbeitslosenquote mit 11,5 Prozent immer noch enorm hoch, und die Mehrzahl der neuen Jobs entsteht im informellen Sektor. Auch der Graben zwischen Arm und Reich ist den UN zufolge tiefer geworden. Brasilien gehört heute zu den zehn Ländern der Erde mit der ungerechtesten Verteilung des Reichtums.
Der Regenwald wurde auf riesiger Fläche vernichtet
Zur wirtschaftlichen Liberalisierung zählt für Brasiliens Regierung auch die Ausbeutung der Amazonasregion. Bolsonaro sagte schon vor der Wahl, dass er den Regenwald für den Bergbau und die Agrarindustrie öffnen wolle. Kaum an der Macht, begann Umweltminister Ricardo Salles, den Umweltbehörden Geld, Personal und Kompetenzen zu streichen. Wichtige Positionen wurden mit Militärs besetzt, kritische Wissenschaftler ausgetauscht.
Die Folgen waren im Juli und August zu beobachten, als Zehntausende Feuer in der Amazonasregion loderten und der Regenwald auf riesiger Fläche vernichtet wurde. Profiteure sind illegale Holzhändler, Landspekulanten und die Agrarindustrie, die zu Bolsonaros treuesten Unterstützern zählt. Er hat es ihr gedankt, indem seine Regierung 467 Pestizide neu zuließ. 22 davon enthalten laut Greenpeace Substanzen, die in der EU verboten sind.
Attacken gegen traditionelle Kulturen
Die Zerstörung des Amazonaswaldes wird begleitet vom Angriff auf Brasiliens Ureinwohner und ihre von der Verfassung geschützten Territorien. Sieben indigene Führer wurden 2019 bei Landkonflikten ermordet. Es ist die höchste Zahl seit elf Jahren. Der Angriff auf die traditionellen Kulturen des Landes und ihren Lebensraum ist wohl das größte Drama, das sich derzeit in Brasilien abspielt. Zuletzt kündigte Bolsonaro ein Gesetz an, das Rinderzucht und Bergbau in den Reservaten ermöglichen soll. Sarkastisch merkte er an, dass damit auch der derzeit hohe Fleischpreis wieder sinken werde.
Das Vorhaben dürfte allerdings vom Kongress blockiert werden, der sich bisher als ausgleichende Kraft erweist und die radikalsten Bestrebungen Bolsonaros abgelehnt hat, wie die garantierte Straffreiheit für Polizisten, die im Dienst töten.
Rockmusik ist mittlerweile verfemt
Genauso aggressiv wie in der Umweltpolitik geht die Regierung auf gesellschaftlichem Terrain vor, insbesondere im Bildungs- und Kulturbereich. Das Kulturministerium wurde abgeschafft und die öffentlichen Gelder zur Finanzierung von Film- und Musikfestivals oder für Theaterproduktionen in weiten Teilen gestrichen. Der neue Chef von Brasiliens Nationaler Kunststiftung sagt, dass Rockmusik direkt zu Abtreibungen und Satanismus führe.
Nach einem Jahr unter Jair Bolsonaro ist Brasilien gespaltener denn je: in Anhänger und Gegner des Präsidenten, in Arm und Reich, Schwarze und Weiße, religiöse Fundamentalisten, die den Präsidenten als Heilsbringer verehren, und rational denkende Menschen.
Vom "Land der Zukunft" ist nichts mehr übrig
Es gibt kaum eine vernünftige, von Ausgleich geprägte Debatte über die schwierige Zukunft Brasiliens, das in den Nullerjahren noch als „Land der Zukunft“ und führende Wirtschaftsnation des 21. Jahrhunderts gefeiert wurde, seitdem aber einen jähen Absturz erlebte. Bolsonaro war nicht angetreten, die tiefen Gräben zuzuschütten. Im ersten Jahr ist er seinem Ruf als Spalter mehr als gerecht geworden.