Attentat auf Atomwissenschaftler Fachrisadeh: Eine Zwickmühle für die Mullahs
Wie soll Teheran den Tod eines wichtigen Nuklearphysikers rächen? Die Führung in Teheran steckt in einem Dilemma. Ein Kommentar.
Mohsen Fachrisadeh ist tot – und der Nahe Osten in Aufruhr. Der Vater des iranischen Atomprogramms wurde am Freitag in einem Teheraner Vorort erschossen. Daran gibt es nichts zu deuteln.
Über den Tathergang gibt es allerdings zwei Versionen. Tötete ein mehrköpfiges Killerkommando den führenden Kernphysiker des Landes? Oder war es ein gezielter Anschlag mit Hilfe eines ferngesteuerten Maschinengewehrs? Egal, welche Version zutrifft: Es war ein höchst professioneller Anschlag auf das Atomprogramm, der für die Herrscher in Teheran einem Debakel gleichkommt.
Da wird ein hochrangiger Vertreter des Regimes auf offener Straße trotz aller Schutzmaßnahmen ermordet – und das auch noch mit Ankündigung. Denn Benjamin Netanjahu hatte schon vor zwei Jahren angedeutet, dass der jüdische Staat Fachrisadeh im Visier hat. Man solle sich diesen Namen merken, erklärte damals Israels Premier und kaschierte damit nicht einmal seine Drohung.
Teheran war gewarnt
Teheran war also gewarnt, musste mit einer Aktion des Mossad rechnen. Dennoch konnten Irans Sicherheitsapparat den Angriff nicht verhindern.
Das allein ist schon peinlich genug. Mindestens genauso schwer wiegt: Die Attentäter konnten unbehelligt untertauchen. Es spricht daher einiges dafür, dass sie iranische Helfer hatten. Wo war der allgegenwärtige Geheimdienst, der doch alles überwachen soll? Welch eine Blamage!
Eine Schande für den Sicherheitsapparat
Kein Wunder, dass die Hardliner nach Vergeltung rufen. „Fürchterliche“ Rache schwören sie, verlangen einen öffentlichkeitswirksamen Schlag gegen die Erzfeinde Amerika und Israel. Und keine Frage – es wird eine Reaktion geben. Das ist für die Herrscherclique eine Prestigefrage. Die dafür nötigen Mittel stehen zur Verfügung.
Der Iran ist ein Meister der asymmetrischen Kriegsführung. Er kann dabei zum einen auf treu ergebene Milizen zurückgreifen, die in der Region jederzeit einsatzbereit sind, um Anschläge zu verüben. Zum anderen besitzt die Islamische Republik ein Arsenal an Präzisionswaffen, vor allem Raketen. Mit derartigen Mitteln lässt sich eine Menge Schaden anrichten. Ihre Schlagkraft haben die Mullahs schon mehrfach unter Beweis gestellt.
Nur: Werden sie das Risiko einer spektakulären Attacke eingehen? Einen Angriff wagen, dessen Folgen unkalkulierbar sind? Irans Machthaber mögen Fanatiker sein. Sie sind jedoch keinesfalls blindwütige Hasardeure, sondern nüchtern kalkulierende Strategen. Zumindest im Moment spricht aus ihrer Sicht einiges dagegen, den Nahen Osten in Brand zu setzen.
Da ist vor allem Donald Trump. Von ihm wissen die Mullahs, dass er am Ende seiner Amtszeit nur auf einen Anlass wartet, um massiv gegen den Iran vorzugehen. Dafür wollen sie keinen Vorwand liefern. Denn Teheran setzt auf die Zeit nach Trump, also auf seinen Nachfolger.
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Joe Biden hat angekündigt, das Nuklearabkommen wiederzubeleben, wenn sich der Iran verhandlungsbereit zeigt. Diese sich womöglich öffnende Tür ist eine große Chance für das Regime, sich von den harten US-Sanktionen zu befreien, die dem Land erheblich zusetzen. Ein übertriebenes Maß an Feindseligkeit würde diese Hoffnung sicherlich zunichte machen. Die Gespräche mit Washington wären vorbei, bevor sie überhaupt begonnen haben.
Die Rufe nach Rache können die Mullahs aber nicht ignorieren. Die Schande ist einfach zu groß. Aus diesem Dilemma müssen die Mullahs erst einmal einen Ausweg finden.