Sachsens Ministerpräsident Tillich über Rechte: "Eine unheimliche Melange"
Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich im Interview über Wutbürger, rechtsextremes Gedankengut, die Taktik der AfD und Sozialdemokratisches in der CDU.
Herr Tillich, seit einigen Wochen wird die Kanzlerin bei Auftritten in Sachsen und anderen ostdeutschen Bundesländern niedergebrüllt. Woher kommt diese Wut?
Die Art und Weise dieser Wut ist, glaube ich, nicht erklärbar. Diese Leute brüllen und pfeifen. Sie wollen gar keine Diskussion, sie wollen ihren angestauten Frust ablassen. Ich glaube, diese Menschen hadern mit ihrer persönlichen Situation. Sie haben Angst vor der Zukunft, und sie suchen jemanden, den sie dafür verantwortlich machen können. Was da zu den Auftritten der Kanzlerin zusammenkommt, ist eine zum Teil unheimliche Melange aus Wutbürgern, Rechtsextremen, „Reichsbürgern“ und der AfD.
Wann ist Ihnen zum ersten Mal klargeworden, dass Sachsen ein ernstes Problem mit Rechtsextremismus hat?
Ich habe bereits 2012 in einer Regierungserklärung im Landtag deutlich gemacht, dass wir ein Problem mit Rechtsextremismus haben, den wir konsequent bekämpfen müssen. In Heidenau und Freital wurde dann noch einmal deutlicher, dass da rechtsextremistisches Gedankengut vorhanden ist. Das ging so weit, dass Helfer und Polizisten attackiert wurden.
Spielt da Hass auf den Staat eine Rolle, wenn Polizisten und Rettungswagen angegriffen werden?
Da ist noch etwas anderes. Mir haben Rettungsassistenten aus Bayern berichtet, dass ein Krankenwagen in eine Fußgängerzone fahren musste, weil jemand in einem Geschäft einen Herzinfarkt hatte. Die Leute haben an die Scheibe des Rettungswagens geschlagen, der Ladenbesitzer nebenan beschwerte sich, dass die Sanitäter ihm den Zugang zu seinem Geschäft blockieren. Das ist kalter Egoismus, eine grenzenlose Selbstbezogenheit. Ich treffe auch Leute, die zum Arzt gehen, obwohl sie nicht krank sind. Einfach, weil sie für ihre Krankenversicherungsbeiträge auch etwas bekommen wollen. „Ich“, glauben sie, „ich habe einen Anspruch darauf.“
Sie meinen, es gibt im Osten inzwischen eine Diktatur des Ichs?
Ich bin in einer Diktatur groß geworden, ein Gleichsetzen damit verbietet sich. Aber ich warne vor einer zu großen Ich- Bezogenheit in unserer Gesellschaft. Vor einem zu großen Anspruchsdenken. Das ist nicht nur ein ostdeutsches Problem. Ich bin froh, dass andererseits fast eine Millionen Ehrenamtliche in Sachsen zeigen, dass das Wir die Mehrheit ist.
Wie ist denn dieses Anspruchsdenken entstanden?
Vielleicht liegt es daran, dass in Deutschland den Menschen das Gefühl vermittelt wird: Da gibt es jemanden, der regelt alles für dich. Du gibst dein Kind in den Kindergarten und mit 18 kriegst du es nach dem Abi perfekt wieder zurück. Für den Rest hat der Staat gesorgt.
Ist das so?
Ja, das ist so. Wir als Union müssen aber dagegenhalten. Es ist nicht der Staat, der für alle sorgen muss. Sondern es ist der Einzelne, der sich nach seiner Façon selbst verwirklichen darf. Das schließt aber auch ein, dass es dabei Ungleichheiten gibt. Diese Auffassung, dass alle das gleiche Gehalt haben sollten, erinnert mich an längst vergangene Zeiten.
Ist auch Ihnen die CDU zu sozialdemokratisch, vielleicht zu modern geworden? Stichwort Atomausstieg, Ehe für alle ...
Gerade was die Energiewende betrifft, haben wir viele Menschen nicht genug mitnehmen können. Und sicherlich gibt es unter unseren Anhängern nicht viele, die mit der Ehe für alle klarkommen. Nichtsdestotrotz ist die CDU eine Volkspartei – die muss vom Arbeitnehmer bis zum Arbeitgeber, vom eher sozial Eingestellten bis zum Konservativen alles abdecken. Da wird es immer Diskussionen geben. Und das ist auch gut.
In der Bundesregierung sind fast alle sozialdemokratischen Forderungen übernommen und von der Union unterstützt worden, bis hin zur Bundeskanzlerin. Nennen Sie doch mal eine christkonservative Position, die von Angela Merkel vertreten wird.
Ihr Abstimmungsverhalten zur Ehe für alle. Koalition bedeutet immer, dass man gezwungen ist, Abstriche zugunsten des kleineren Koalitionspartners machen.
Die Abstimmung zur Ehe für alle hatte Merkel erst freigegeben, selbst aber dagegengestimmt. Nennen Sie doch mal eine Position, wo sie ganz standfest ist.
Es sind so viele, die kann ich nicht alle aufzählen. Insgesamt hat die Union, haben wir die Aufgabe, das aufzunehmen, was die Menschen in diesem Land beschäftigt. Sie wollen Klarheit, wo es mit Deutschland hingeht. Sie wollen, dass Leistung anerkannt wird, möglich ist und sich lohnt. Sie wünschen sich stabile Verhältnisse, weil sie merken, dass internationale Konflikte nicht weniger, sondern mehr werden. Und sie wollen das, was sie erreicht haben, auch behalten.
Sind es nicht derartige Ängste vor dem Abstieg etwa, die viele im Osten die AfD wählen lassen?
Die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen, sondern ein gesamtdeutsches. Da steckt eine große Unzufriedenheit mit der Politik dahinter. Das fing mit der Griechenlandrettung an und fand seine Fortsetzung bei der Flüchtlingspolitik. Es ist eine Sammlung von denen, die sich zusammentun und sagen, ich will ein ganz anderes Land. Und da sind eben neben unzufriedenen Bürgern auch sogenannte Reichsbürger und Rechtsextreme darunter. Das macht mir große Sorgen.
Tut Deutschland womöglich zu wenig gegen „Reichsbürger“?
Wir sind viel zu lasch mit denen umgegangen. Es kann nicht sein, dass sich ein Spediteur weigert, Mautbeiträge an den Staat abzuführen, weil er in seiner Welt gar nicht existiert, aber gleichzeitig seine Kinder vom Staat betreuen lässt. Darauf muss der Staat Antworten finden. Sonst werden die, die rumschreien und sich Privilegien rausnehmen, noch zum Vorbild für andere. Das sind sie nicht.
Es scheint in Sachsen ein Problem zu sein, dass mit ganz Rechten auch immer wieder der Dialog gepflegt wird. In Bautzen hat der stellvertretende Landrat, ein Parteifreund von Ihnen, kürzlich ein dreistündiges Gespräch mit einem NPD-Mann geführt. Warum haben Sie sich nicht klar distanziert?
Ich habe mein Unverständnis darüber geäußert und bleibe dabei: Das ist überflüssig. Man braucht mit der NPD nicht über Deeskalationsstrategien zu reden. Aber das sind Gott sei Dank Einzelfälle.
Schlagzeilen machte auch ein Vorgang im Dresdner Stadtrat. Dort haben CDU, FDP, AfD und NPD gemeinsam gegen ein Programm für Weltoffenheit gestimmt.
Das habe ich nicht gelesen und kenne auch nicht die Vorlagen des Stadtrates.
Wie sollte denn die CDU in Sachsen mit der AfD umgehen? In einigen Landes- und Kommunalparlamenten gab es bereits gemeinsame Anträge.
Wir haben in Sachsen klar vereinbart, dass wir mit der AfD nicht zusammenarbeiten. Wir hatten kürzlich erst eine von der AfD taktisch aufgesetzte Landtagsdebatte über das Burka-Verbot mit einer namentlichen Abstimmung. Am Tag davor eine zur Ehe für alle. Das waren bewusste Nadelstiche der AfD, um jemanden aus der Geschlossenheit der CDU herauszubrechen. Aber das funktioniert nicht.
Stanislaw Tillich ist seit 2008 Ministerpräsident von Sachsen und Landesvorsitzender der CDU. Das Gespräch führten Stephan-Andreas Casdorff, Maria Fiedler und Matthias Meisner.