Die Lage im Ostteil Aleppos: „Eine Trümmerlandschaft, wie ich sie noch nie sah“
Christian Schneider ist seit sieben Jahren Geschäftsführer von Unicef Deutschland und kennt die dramatische Lage in Aleppo sehr gut. Ein Interview.
Herr Schneider, vor fast einem Jahr hat Syriens Machthaber Baschar al Assad das lange Zeit heftig umkämpfte Aleppo zurückerobert. Wie sieht es heute dort aus?
Zunächst fällt ein bizarr wirkender Widerspruch ins Auge. Im kaum zerstörten Westteil der Stadt gehen die Leute mehr oder weniger ihren Alltagsbeschäftigungen nach. Es gibt so etwas wie ein normales Leben. Und dann betritt man die im Osten gelegene Altstadt und steht in einer komplett anderen Welt.
Das heißt?
Das Ausmaß der Zerstörung lässt sich kaum in Worte fassen. Das ist eine Trümmerlandschaft, wie ich sie noch nie so gesehen habe. Überall gibt es ausgebrannte Ruinen und heruntergestürzte Dächer. In vielen Wohnvierteln stehen nur noch ganz wenige Häuser, die nicht völlig zerbombt sind. Dass hier noch vor einem Jahr Menschen unter ständigem Beschuss ausgeharrt haben, kann man sich nur schwer vorstellen.
Sind überhaupt schon Menschen nach Ost-Aleppo zurückgekehrt?
Nach Auskunft unserer Mitarbeiter, die auch während der Kämpfe in der Stadt gearbeitet haben, sind es allenfalls einzelne Familien. Vereinzelt wird versucht, Häuser wiederherzurichten. Doch angesichts der Dimension der Zerstörung dürfte das noch sehr lange dauern.
Von einem Wiederaufbau kann also keine Rede sein?
Nein. Es geht für Hilfsorganisationen wie Unicef in erster Linie darum, die Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen. Die Einwohner in ganz Aleppo brauchen dringend sauberes Trinkwasser, Lebensmittel und jetzt vor dem Winter Decken und warme Kleidung. Das Gros der Bevölkerung ist im siebten Kriegsjahr verarmt. Wir gehen davon aus, dass zwei Drittel der Syrer pro Tag mit gerade mal zwei Dollar auskommen müssen. Alle Ressourcen sind aufgebraucht, um ein nächstes Kriegsjahr zu überstehen.
Wie sieht es mit medizinischer Versorgung aus?
In ganz Syrien wie auch in Aleppo sind Krankenstationen gezielt angegriffen worden – und werden es bis heute. Allein in diesem Jahr haben wir landesweit bisher 107 derartiger Attacken gezählt. Ich habe vor wenigen Tagen die zentrale Klinik in Aleppo besucht. Dort mangelt es an Medikamenten und Ausstattung. Kinder, die zum Beispiel Krebs haben, können nicht richtig behandelt werden. Generell kann von einer flächendeckenden medizinischen Infrastruktur keine Rede sein.
Was macht den Kindern besonders zu schaffen?
Hinter den eigentlichen Trümmern wird rasch sichtbar, wie beschädigt die Seelen der Mädchen und Jungen sind. Kinder sind traumatisiert, fangen mitten im Gespräch an zu weinen. Sie berichten dann etwa über die Bombardements ihrer Schulen. Ein Vierzehnjähriger musste beispielsweise mitansehen, wie sein bester Freund und seine Lieblings-Lehrerin bei einem Mörserangriff ums Leben kamen. Solche Geschichten sprudeln regelrecht aus den Kindern heraus. Und zur psychischen Not kommen eben noch die Entbehrungen des Alltags hinzu.
Gehen die Kinder wieder zur Schule?
In ganz Syrien haben 1,75 Millionen Mädchen und Jungen gerade keinen Unterricht. Doch Schule ist für Kinder ein ganz wichtiger Faktor, um in ein normales Leben zurückzufinden. Unicef bemüht sich deshalb sogar in einer zerbombten Ruinenlandschaft wie der von Ost-Aleppo einfachen Schulunterricht zu ermöglichen. Dort gibt es eine Unicef-Schule, in der 500 Kinder in Containern betreut werden. Die stehen auf den Überresten einer alten, zerbombten Schule. Das ist wenigstens ein kleines Zeichen der Hoffnung.
In Deutschland wird gerade darüber debattiert, ob geflüchtete Syrer in bestimmte Gebiete ihrer Heimat zurückgeschickt werden sollten und können. Was halten Sie von diesem Vorstoß?
Wenn man das heutige Aleppo gesehen hat, dann besteht kein Zweifel mehr: Der Horror des Krieges ist noch längst nicht vorbei. In und um Aleppo gibt es nach wie vor Mörserbeschuss. Hinzu kommt die Hinterlassenschaft des mörderischen Konflikts. Überall gefährden Blindgänger und Landminen das Leben der Familien.
Sie raten also von einer Rückführung nach Syrien ab?
In vielen Regionen wird noch erbittert gekämpft. Und einige Gebiete werden belagert. Dort sind allein 200000 Kinder wegen der Blockaden von ausreichender Versorgung abgeschnitten. Ganz abgesehen von einer fehlenden Infrastruktur. Solange dies alles der Fall ist, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Flüchtlinge in großer Zahl nach Syrien zurückkehren können.
Was ist zu tun?
Es braucht jetzt erst einmal eine immense Kraftanstrengung, um die vielen notleidenden Menschen im Land überhaupt über den nächsten Winter zu bringen. 5,3 Millionen Kinder benötigen dringend humanitäre Hilfe. Allein in Syrien wollen und müssen wir in den nächsten Wochen 700000 Kinder mit Winterkleidung und Decken ausstatten. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Rückkehr der vielen Vertriebenen schwer vorstellbar.
Das Gespräch führte Christian Böhme