Ex-Merkel-Berater Heusgen über Bequemlichkeit: „Eine Macht wie Deutschland kann sich nicht mehr verstecken“
Christoph Heusgen fordert im Interview die Regierung dazu auf, international Verantwortung zu übernehmen. Wie aber muss man mit China und Russland umgehen?
Christoph Heusgen (66) war von 2005 bis 2017 außenpolitischer Berater der Bundeskanzlerin Angela Merkel und danach deutscher Botschafter bei den UN. Nun wird er Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.
Seine wichtigsten Aussagen:
- Heusgen fordert deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine: "Es ist zu einfach, sich hinter Prinzipien zu verstecken."
- Er kritisiert die Abgabe deutscher Gasspeicher an russische Konzerne: "Es gibt Manager, die ihre Augen vor der nationalistischen Politik Putins verschließen."
- Sein Rat, wie Deutschland und Europa sich gegen China besser durchsetzen: "Es gibt nur eine Methode: Absprache mit den Partnern. Als einzelner Staat ist man China immer unterlegen."
Was ist los mit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik? Verbündete kritisieren die Bundesregierung wegen ihres Umgangs mit Russland, der Ukraine und China. Fehlt den Deutschen ein klarer Kompass in einer veränderten Weltlage?
Deutschland sitzt nicht zwischen den Stühlen. Wir müssen uns aber stärker bewusst machen, dass die Welt sich grundlegend verändert. Wir haben noch nicht konsequent genug die Lehren daraus gezogen.
Deutschland hat in den vergangenen Jahren unter Bundeskanzlerin Angela Merkel eine verantwortungsbewusste Außenpolitik geführt, auch für die Ukraine. Sie hat das Normandie-Format für Verhandlungen ins Leben gerufen und Europa in Sanktionsfragen zusammengehalten. Deutschland führt die Nato-Schutztruppe in Litauen und beteiligt sich an der Luftüberwachung.
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Was hat sich in der Welt verändert?
Die USA sind stärker mit ihrer Innenpolitik beschäftigt und weniger mit der Sicherheit ihrer Verbündeten. China tritt selbstbewusster auf, Präsident Xi verfolgt eine nationalistische Politik, agiert aggressiver im Südchinesischen Meer, drangsaliert die Demokratiebewegung in Hongkong und Minderheiten bis hin zum Vorwurf eines kulturellen Genozids. In Russland ordnet Wladimir Putin alles dem Machterhalt unter. Oppositionspolitiker lässt er umbringen oder vergiften. Auf alle diese Veränderungen müssen wir reagieren.
Die Regierung Merkel war eine zentrale Anlaufstelle für die Russland- und Chinapolitik. Warum ist die Ampel das nicht?
Ein neuer Regierungschef kann nicht nahtlos in die Rolle seiner Vorgängerin schlüpfen. Angela Merkel hat sich den weltweiten Respekt erst über die Jahre hinweg hart erarbeitet. Die neue Bundesregierung wird hineinwachsen in die internationale Verantwortung, die von der viertstärksten Wirtschaftsmacht der Erde erwartet wird.
Die Probleme mit China und Russland sind nicht neu. Verdrängen wir Deutschen die neuen Bedrohungen? Stimmt die Sicherheitsarchitektur? Brauchen wir einen nationalen Sicherheitsrat, der solche Risiken vorausschauend abwägt?
Wir haben uns sehr bequem eingerichtet, wollen uns zurückhalten und nicht mit klaren Kanten auffallen. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung kann eine Macht wie Deutschland sich nicht mehr verstecken und die Geschichte als Ausrede benutzen. Es muss internationale Verantwortung übernehmen. Das ist noch nicht bei allen angekommen.
Wolfgang Ischinger und ich fordern als bisheriger und künftiger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz einen Nationalen Sicherheitsrat. Wir sind auch dafür, das Auswärtige Amt und das Entwicklungshilfeministerium zusammenzulegen, wie andere das tun, um die Schlagkraft unserer Außenpolitik zu erhöhen.
Der australische Botschafter in Berlin sagte mir kürzlich: Wir Australier konnten uns diese Trennung der Ministerien angesichts der Herausforderungen in unserer Nachbarschaft nicht mehr leisten.
Wo hat die deutsche Außenpolitik dazu gelernt? Ist sie besser vorbereitet als 2014, falls Russland die Ukraine erneut angreift? Besser als 2016, falls die USA wieder einen Präsidenten wie Trump wählen? Und besser, falls China Taiwan gewaltsam eingliedern möchte?
Wir haben in allen Bereichen etwas getan, aber nicht genug. Wir haben die Verteidigungsausgaben erhöht, geben den UN-Organisationen mehr Geld, übernehmen mehr Verantwortung auf dem Balkan und in Afrika. Aber die Dimension der internationalen Veränderungen haben wir unterschätzt, von den USA über Russland bis China. Wir unterschätzen die Auswirkungen bis heute. Da müssen wir noch eine Schippe drauf legen.
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Was muss Europa tun, um selbst für seine Sicherheit zu sorgen?
Wir müssen den Worten dringend Taten folgen lassen und eine europäische militärische Eingreiftruppe auf die Beine stellen, die binnen kürzester Zeit einsatzfähig ist. Die, zum Beispiel, beim Afghanistan-Abzug den Flughafen von Kabul sichern kann, um eigene Bürger und Ortskräfte herauszuholen. Deutschland muss sich politisch mehr einmischen. Länder auf allen Kontinenten erwarten ein stärkeres deutsches Auftreten, das habe ich als Botschafter bei der Uno immer wieder erlebt.
Wo ist Deutschlands Platz in Asien im Machtkampf zwischen China und den USA: fest an der Seite der Demokratien? Oder in Äquidistanz zu ihnen?
Äquidistanz kann es nicht geben. Deutschland muss in Asien und generell auf der Seite der Staaten stehen, die das internationale Recht durchsetzen. Wir haben letztes Jahr die Fregatte "Bayern" durch das Südchinesische Meer geschickt, um zu zeigen, dass uns die Freiheit der Seewege wichtig ist. Als UN-Botschafter habe ich mit dem vietnamesischen Kollegen eine Freundesgruppe des internationalen Seerechts gegründet.
Unsere Partner in Asien erwarten Solidarität. China müssen wir klar sagen: Wenn internationales Recht gebrochen wird, stehen wir auf der Seite derer, die es verteidigen.
Deutschland ist die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, die EU ist ökonomisch ähnlich stark wie die USA oder China. Europa ist aber nicht in der Lage, seine Interessen ebenso erfolgreich zu vertreten. Was muss sich ändern?
Unseren Wohlstand verdanken wir dem Zusammenschluss in der EU, dem Binnenmarkt, dem Euro, der Freizügigkeit. In der globalen Handelspolitik sind wir ein Machtfaktor, in der Sicherheitspolitik nicht, denn die liegt in der Macht der souveränen EU-Staaten. Der amerikanische Schutzschirm, der uns erlaubt, unsere nationalen Eigenheiten auszuleben, hält noch, ist aber nicht mehr wetterfest.
Wie verdienen sich Deutschland und Europa den Respekt Chinas?
Es gibt nur eine Methode: Absprache mit den Partnern. Als einzelner Staat ist man China immer unterlegen, weil Peking sofort mit Sanktionen zurückschlägt. Wenn wir zusammenstehen, beeindruckt das China. Dann haben wir eine Chance, unsere Werte und das Recht durchzusetzen.
Die Bundesregierung wird kritisiert wegen ihrer Weigerung, der Ukraine Waffen zu geben. Sie beruft sich auf die deutsche Geschichte. Sie raten zur Lieferung von Defensivwaffen. Warum?
Deutschland liefert zwar grundsätzlich nicht in Konfliktregionen. Es ist aber zu einfach, sich hinter Prinzipien zu verstecken. Man muss die Einzelfälle sehen. In der Ukraine sind im Zweiten Weltkrieg so viele Menschen durch deutsche Schuld ums Leben gekommen, dass sich daraus die Pflicht zur Hilfe durch die Lieferung von Defensivwaffen ableiten lässt.
Deutschland liefert längst Waffen in Konfliktgebiete: im Syrienkrieg an kurdische Milizen, um einen Völkermord an den Jesiden verhindern. Kann man der Ukraine Verteidigungswaffen verwehren?
Die Entscheidung, der Ukraine keine Waffen zu liefern, wurde nach dem Minsker Abkommen getroffen, um den Konflikt zu beruhigen. Vorübergehend ist das gelungen. Jetzt nicht mehr. Russland hat den Weg der Verhandlungen verlassen und sich für Aggression und Drohungen entschieden. Deutschland muss überlegen, wie es die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärkt.
Andere Staaten haben sich schneller auf die neue Lage eingestellt. Ist deutsche Politik langsam im Umdenken?
Ja. Es ist gut, wenn die Bundesregierung nicht zu Schnellschüssen neigt. Aber sie darf sich nicht darauf berufen: Das haben wir immer so gemacht.
Ein Grund für Vorsicht ist die hohe Abhängigkeit von russischem Gas. Stößt der Wunsch nach einer wertegeleiteten Außenpolitik hier an praktische Grenzen?
In der Vergangenheit hat der Wirtschaftsaustausch zur Entspannung beigetragen. Als das Projekt Nord Stream begann, waren die Beziehungen zwischen Russland und Europa besser. Heute ist das anders. Russland setzt Energie als Hebel ein. Deshalb müssen wir Alternativen finden, damit wir nicht einseitig abhängig werden.
Deutschland braucht Gas für die Energiewende. Trägt die Fixierung darauf zu falschen Prioritäten bei? Krieg oder Frieden ist doch moralisch wichtiger als die Frage, ob Deutschland etwas früher oder später aus Atom und Kohle aussteigt.
Moralisch ist beides wichtig, auch dass wir aus den fossilen Brennstoffen aussteigen. Ich glaube nicht, dass eine neue Debatte über den Atomausstieg zu anderen Ergebnissen führt. Wir müssen vielmehr alternative Quellen für Gas nutzen. Die Terminals für Flüssiggas müssen fertiggestellt und unsere Gasspeicher gefüllt sein, zu bezahlbaren Preisen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Putin uns mit der Gasversorgung erpresst.
Erst vor kurzem haben deutsche Firmen die Kontrolle wichtiger Gasspeicher an Russland abgegeben. Halten Sie es für Zufall, dass die nicht so gut gefüllt sind?
Es gibt Manager, die ihre Augen vor der nationalistischen Politik Putins verschließen.