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Rita Süssmuth (81) war von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestags und davor drei Jahre lang Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit.
© imago/IPON

Umgang mit Hysterie in der Gesellschaft: "Eine Krise kann sehr heilsam sein"

Rita Süssmuth war Ministerin auf dem Höhepunkt der Aids-Krise. Hier erklärt sie, was man aus dieser hysterischen Zeit für die Flüchtlingsdebatte lernen kann.

Frau Süssmuth, Sie waren auf dem Höhepunkt der Aids-Krise von 1985 bis 1988 Gesundheitsministerin. Wie haben Sie die Situation damals erlebt?

In der Politik standen zwei Positionen gegeneinander. Die eine war sehr kontrollierend und ausgrenzend. Am liebsten hätte man HIV-Positive auf eine einsame Insel gepackt, zumindest aber in geschlossene Heime. Und es war erst einmal so, dass Peter Gauweiler (CSU) aus Bayern die Person war, der man mehrheitlich folgen wollte. Ich war zunächst auf der Verliererstraße. Ich erinnere mich noch, wie ich zu unserem Staatssekretär Werner Chory sagte: "Es sieht dunkel aus, aber da wollen wir nicht bleiben". Und ich habe dann gelernt, wie sich der Grundsatz von Prävention, Selbstverantwortung und Verantwortung der Gesellschaft durchsetzen ließ.

Gegen eine erhebliche Hysterie in der Gesellschaft – Sie haben später selbst über diese Zeit gesagt: "Es gibt Situationen, da versinken die Menschen vor Ratlosigkeit in Angst. Es ist wie bei der Flüchtlingskrise".

Wenn in Gesellschaften Ereignisse passieren, die mehr als die Zielgruppe betreffen, kommen erhebliche Ängste und Abwehrreflexe hoch. Menschen wollen sich schützen. Die Betroffenen will man nicht in der Schule, nicht im Kindergarten haben. Ein zweiter, nicht zu übersehender Aspekt damals war die Beschimpfung der Betroffenen: Warum habt ihr euch wie die Schmuddelkinder, wie die Sündigen verhalten? Und auch solche Sätze wie: "Die Homosexuellen sind selbst schuld".

Inwiefern ähnelt die damalige Situation jener der Flüchtlinge heute?

Auch Flüchtlinge sind "die anderen", sie sind nicht "wir". Sie kommen aus Regionen und Kontinenten, deren Kultur uns fremd ist, dazu kommt die Frage der Hautfarbe. Es geht also immer um Ab- und Ausgrenzung.

Auf dem Höhepunkt der Aids-Krise haben Sie sich trotz der Rufe nach Ausgrenzung und einer hysterischen Stimmung in der Bevölkerung mit einer ganz anderen Linie durchgesetzt: Zusammenarbeit mit den Betroffenen und Unterstützung von Selbsthilfe.

Es gelang mir, die zwei führenden Experten auf der Welt in Sachen Aids zu Bundeskanzler Helmut Kohl einzuladen. Auch von ihnen hörte er, dass Prävention der wichtigste Teil ist. Dass es durch Aufklärung gelingt, die Menschen zu erreichen, damit sie sich selbst schützen – und damit auch die Betroffenen. Es war ganz entscheidend, so wie wir das auch heute bei den Ehrenamtlern in der Flüchtlingskrise erleben, mehr Ruhe in die Gesellschaft zu bringen, sich hinter die Betroffenen zu stellen. Viele halfen dabei, alleine hätte ich das nicht geschafft.

Sie hatten Erfolg. Die HIV-Infektionszahlen in Deutschland blieben vergleichsweise niedrig, die Krise wurde gemeistert.

Eine Krise kann sehr heilsam sein, wenn es darum geht, seinen Blick auf den anderen zu verändern. Das Thema Sexualität und Homosexualität wurde in anderer Weise entdeckt, als das zuvor der Fall war. In dieser Krise haben Menschen gelernt, eine neue Sprache in Bezug auf Sexualität zu finden, einen neuen Blick auf die Homosexuellen zu richten. Es hat trotzdem bis zur letzten Wahlperiode gedauert, um den entscheidenden Schritt zu gehen, dass Homosexuelle heiraten dürfen. Das hat nochmals eine Empörung in der Gesellschaft ausgelöst, aber für mich ist wichtig, dass damit zugleich auch eine gesellschaftlich-kulturelle Erneuerung passierte.

Die Aids-Krise war also demnach im Nachhinein ein Modernisierungsschub für die Gesellschaft. Heißt das im Umkehrschluss, wir erkennen die Chancen der sogenannten Flüchtlingskrise gar nicht?

Völlig richtig. Angst ist der schlechteste Ratgeber in einer Krise. Mein Standpunkt war damals und heute: Ermutigung! Diese Menschen kennenzulernen, ist ganz wichtig! Das gilt auch für Flüchtlinge. Man hat Angst vor dem, was man nicht kennt. Angst, er könnte mir was wegnehmen. Mir ist wichtig, dass dort, wo ausgesondert werden sollte, neue Nähe geschaffen werden muss. Das haben wir damals auch gelernt. Gemeinsame Ziele durch gemeinsame Arbeit erreichen, für einander Sorge tragen, die "Anderen" in ihrem Potenzial und das Verbindende entdecken.

Machen wir dann nicht gerade alles falsch, wenn wir Flüchtlinge in Heimen unterbringen oder sie von Arbeit ausschließen? In der Aids-Krise wurden Betroffenen-Organisationen mit finanziellen Mitteln ausgestattet, man hat die Betroffenen "empowered", damit sie ihre Probleme selbst lösen.

Menschen haben selbst Power, aber sie wird schwächer, wenn die Energie von Menschen nicht beachtet und beiseitegeschoben wird. Zum Gedanken von "Empowerment" gehören jedoch immer auch Hilfen. Nicht nur Bildung – bei Aids damals hieß das Aufklärung –, sondern gemeinsam mit diesen Menschen eine Sache voranbringen. Wir müssen von der Bereicherung und dem Potenzial sprechen und nicht nur von der Bürde, Flüchtlinge aufzunehmen.

Warum gelingt es uns nicht besser, auf die bestehenden Erfahrungen wie aus der Aids-Krise zurückzugreifen?

Wir Menschen sind Wesen, die lernen und verlernen und immer neu erfahren müssen, dass es auch anders geht. Es heißt immer: Werdet, wie wir sind! Aber darum geht es eigentlich nicht. Lernt friedlich miteinander umzugehen und lernt das andere wertzuschätzen, was wir nicht haben. Umgekehrt wertschätzen Flüchtlinge an uns, das erlebe ich auch immer wieder, die Freiheit, aber auch die Sicherheit, die Menschen haben, und, bei allen Einschränkungen, die Möglichkeit, sich selbst entwickeln zu können

Sind Sie hoffnungsfroh, dass ein solcher Sinneswandel noch stattfinden kann? Oder ist es nicht schon zu spät, angesichts der aktuellen politischen Lage, mit dem Aufstieg der AfD und einer CSU, die über weite Strecken auch nicht anders klang?

Sie haben recht, die gegenwärtigen politischen Verhältnisse sind belastend. Natürlich leben wir in einer Umbruchsgesellschaft, aber da kommt es ja gerade darauf an, sich auf das Andere und den Anderen einzulassen. Ich empfinde das gegenwärtig als Krise, nicht nur als politische Krise, sondern auch als menschliche Krise. Aber wenn ich andererseits die Menschenmassen sehe, die sich versammeln und auf der Straße als Gegenbeispiel zeigen, dann glaube ich, es ist noch nicht zu spät. Es kommt darauf an, rechtzeitig aufzustehen, sich zu empören, wie Stéphane Hessel sagt: Engagiert euch! Ich glaube, dass auch unser Land und die Menschen in unserem Land immer noch diese Kraft aufbringen und wir nicht in einer Situation leben, wo wir das schon wieder aufgeben. Ich bleibe voller Hoffnung!

Das Gespräch führte Dirk Ludigs.

Dirk Ludigs

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