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Ein Act-Up-Marsch im Jahr 1995 in New York.
© Mike Segar/Reuters

30 Jahre Aids-Protestgruppe Act Up!: „Die Männer konnten froh sein, dass wir Lesben dabei waren“

Vor 30 Jahren gründete sich die Gruppe Act Up, die gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV/Aids kämpfte. Ein Gespräch mit der Mitgründerin über "Die-Ins", zivilen Ungehorsam und lesbisch-schwule Koalitionen.

Es waren an die 250 Leute, reglos auf dem Boden liegend, mitten auf der Wall Street: Vor dreißig Jahren demonstrierten New Yorker Aids-Aktivist_innen mit einem „Die-In“, einem symbolischen „Sich-tot-Stellen“ in der Öffentlichkeit: für den freien Zugang zu Medikamenten, gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV/Aids und für sinnvolle Prävention. Es war die erste große Protest-Aktion von ACT UP (Aids Coalition To Unleash Power), einem weltweiten Netzwerk politischer Aids-Aktivist_innen. Die Journalistin Anne-Christine D’Adesky (59) war bei dem ersten Die-In am 24. März 1987 mit dabei.

Frau D'Adesky, in der Zeit vor der Gründung von ACT UP steuerte die Aids-Epidemie gerade auf ihren Höhepunkt zu. Wie war die Stimmung damals in New York?

Ich fing gerade an, als Journalistin zu arbeiten, und schrieb für den New York Native, der als erste Zeitung über die Krankheitsfälle bei schwulen Männern berichtete. Wir glaubten damals noch, es handelt sich um eine Grippe, die einfach zu lange dauert. Wir, ein kleines Team von Gesundheitsjournalist_innen, standen an der vordersten Front der Berichterstattung. Und auch Larry Kramer veröffentlichte seinen ersten Aufruf an die Community im New York Native. Viele der Auseinandersetzungen dieser frühen Jahre, einschließlich der über Joe Sonnabends Ideen zu „Safe Sex“ – über die Verteilung von Kondomen in den schwulen Saunen und so weiter –, entstanden aus der Angst heraus, schwule Männer könnten erneut pathologisiert, also für krank erklärt, und kriminalisiert werden. Die schwule Saunakultur stand exemplarisch für die zuvor errungenen sexuellen und gesellschaftlichen Freiheiten. Die offizielle Antwort auf die gesundheitspolitischen Herausforderungen durch Aids aber war eine traditionelle, sie forderte Quarantäne und polizeiliche Maßnahmen – Menschen sollten ins Gefängnis gesteckt werden. Als die New Yorker Stadtverwaltung und selbst einige schwule Männer „Schließt die Saunen!“ riefen, begann der Gegendruck. Man hatte einfach Angst...

… aus der schnell Wut wurde.

Es entstand auch jede Menge Wut, ja, weil wir wussten, dass viele Amtsträger in der New Yorker Gesundheitsverwaltung selbst schwul waren und nichts taten, um die Leute ausreichend zu informieren. Auf der einen Seite gab es also Überwachung, diese drakonische Herangehensweise und Verbotsmentalität. Auf der anderen Seite stand ein Gefühl von starker Dringlichkeit: Schwule Männer – und darüber hinaus Lesben und trans* Leute – mussten in die Lage versetzt werden, sich über die Situation informieren und diskutieren zu können. Neben der Angst vor Kriminalisierung gab es auch die vor Isolation: Die LGBT-Community, Lesben, Schwule, Bisexuelle und trans* Menschen, sollte ausgehungert werden.

Anne-Christine d'Adesky (59) ist Journalistin und Aktivistin. Sie gehört zur Kerngruppe von Act Up.
Anne-Christine d'Adesky (59) ist Journalistin und Aktivistin. Sie gehört zur Kerngruppe von Act Up.
© privat

Erinnern Sie sich, wie dieses Gefühl in den Aufruf kulminierte, sich zusammenzutun und ACT UP zu gründen?

Es gab ein öffentliches Treffen, das sehr gut besucht war. Ich war auch dort und erlebte Larry Kramer als sehr aufgebracht und besorgt. Den anderen ging es aber genauso. Alle hatten das ernste Gefühl, dass unsere Community angegriffen wird, nicht nur in medizinischer Hinsicht, sondern auch durch Stigmatisierung. Denn damals passierten zwei Dinge gleichzeitig: Zum einen hatte die Stadt New York kein Problem damit, schwule Männer einfach so sterben zu lassen. Zum zweiten wurde Homophobie dazu genutzt, Menschen nicht heterosexueller Orientierung zu isolieren. Unser Zugang zum öffentlichen Leben, zu Schulen, Bussen, Krankenhäusern und Verwaltungen war plötzlich in Gefahr. Wir brauchten also schnell Strategien für den bestmöglichen Umgang mit der ansteckenden Krankheit und mussten gleichzeitig sicherstellen, dass unsere Rechte als Bürger_innen, auch unsere Rechte in Bezug auf unsere Sexualität, respektiert werden. Denn das wurden sie nicht.

Wie kam es dann nach diesen ersten Treffen zu dem Die-In auf der Wall Street am 24. März 1987, der ersten öffentlichen Aktion?

Das wichtigste Thema in diesem Frühjahr 1987 war die Verfügbarkeit von AZT, dem damals einzigen Medikament, das trotz seiner Toxizität im Kampf gegen Aids brauchbar erschien, weshalb die Herstellerfirma Burroughs Wellcome es zu astronomischen Preisen verkaufte. So entstand die Idee zum Die-In auf der Wall Street.

Rund 250 Menschen kamen. Wer waren diese Leute?

Der innere Zirkel der aktiven Mitglieder. Viele andere verfolgten unsere Arbeit und kamen zu den Treffen, fühlten sich aber nicht sicher genug, um Aktivist_in zu werden – wie heute bei den Trump-Protesten auch. Haitianer_innen zum Beispiel kamen nicht, obwohl sie als eine der Hauptbetroffenengruppen galten. Einige von ihnen hatten aber keine Aufenthaltspapiere, und es gab bereits Überlegungen, die Grenzen dicht zu machen oder Leute auszuweisen. Gleichzeitig begann auch in anderen Städten ein Aktivismus, und Leute kamen von außerhalb zur Wall-Street-Aktion. ACT UP wurde sehr schnell ein nationales Phänomen.

Sie waren als lesbische Frau eine der Mitgründerinnen von ACT UP New York. Aus deutscher Sicht ist das eher ungewöhnlich. Hier arbeiten Lesben und Schwule bis heute eher in Ausnahmefällen zusammen. Welche Rolle hatten Frauen und insbesondere Lesben bei ACT UP?

Die schwulen Männer konnten schrecklich froh sein, dass bei ACT UP so viele Lesben mit so viel politischer Erfahrung dabei waren, der festen Überzeugung bin ich bis heute. Die meisten von uns waren ja vorher schon viele Jahre in einer Gesundheitsbewegung aktiv. Wir waren Feministinnen und hatten zu Themen wie Abtreibung oder Zugang zur Gesundheitsversorgung gearbeitet. All das notwendige Praxiswissen, wie man Anrufbäume benutzt zum Beispiel, zu Formen des zivilen Ungehorsams, passivem Widerstand, der Auseinandersetzung mit rechter Rhetorik in Fragen der Sexualität – all das brachten die Lesben und die Frauen insgesamt mit, denn es gab auch einige heterosexuelle Frauen bei ACT UP. Und ich glaube, wir brachten auch ein Wissen um Prozesse mit. Wir wussten, dass Prozesse die Beteiligten ermächtigen – empowern – müssen.  Genauso übrigens steuerten die Schwarzen und Latinos ein Verständnis für Rassen- und Klassenfragen bei. Waren wir ausreichend erfolgreich? Natürlich nicht! Innerhalb von ACT UP mussten Frauen intensiv dafür kämpfen, dass Männer kapierten, warum das auch ein Frauenthema, geschweige denn ein Lesbenthema war. Es gab viel Sexismus innerhalb von ACT UP und sehr viel unhinterfragten Rassismus, weil es natürlich größtenteils weiße schwule Männer waren. Aber Aids war auch ein großer Gleichmacher, und auf die eine oder andere Art waren wir alle betroffen. Wir bemerkten schnell die Vorteile dieser unterschiedlichen Perspektiven.

Offensichtlich gelang es auch, diese unterschiedlichen Menschen zusammenzuhalten.

Die Gruppe forderte von ihren Mitgliedern, persönlich Verantwortung zu übernehmen, und gab ihnen gleichzeitig einen Ort, wo sie ihre Ängste hintragen, nach außen kehren und Unterstützung bekommen konnten. Ich denke, das machte ACT UP so erfolgreich.

Und die Gruppe wusste auch, die Medien zu nutzen, man hatte ein Händchen für starke Symbole.

Die Symbole und Bilder von ACT UP trugen ebenfalls zu unserem Erfolg bei, genauso das Medien-Team, ein Unterkomitee, zu dem ich von Anfang an gehörte. Sehr wichtig für den Erfolg von ACT UP war von Anfang an unser Bewusstsein darüber, dass wir uns in einer PR-Schlacht befanden, in der das Medium die Botschaft war. Weil die Medien so homophob waren, mussten wir nicht nur unsere eigenen Medien schaffen, sondern auch die Medien dazu bringen, uns wahrzunehmen und Inhalte zu veröffentlichen, die als zu kontrovers oder ungeeignet galten. All das waren entscheidende Strategien, um klare und schlüssige Botschaften und die Forderungen der Gay Community in die Öffentlichkeit zu bringen. Und es war uns immer klar, dass wir das Recht hatten, Dinge zu fordern, und dass wir besser wussten als alle anderen, wie wir von der Situation betroffen waren. Das Konzept des „Empowerment“ also, das so etwas wie die Signatur von ACT UP wurde, entstand wirklich in diesen frühen Tagen.

Wer hatte die Idee, den Rosa Winkel aus dem Nationalsozialismus in Verbindung mit dem Schriftzug Silence = Death zu verwenden, was so emblematisch wurde für ACT UP?

„Gran Fury“, eine kleine Gruppe von Künstler_innen hatte dieses Symbol entwickelt und zur Diskussion gestellt. Die Assoziation mit dem Holocaust war einer der Gründe, warum wir uns für den Rosa Winkel entschieden: Damit konnten wir die Dringlichkeit unserer Arbeit noch besser herausstellen. Mit dem Auftreten von Aids forderten die Gesundheitsbehörden, Leute ins Gefängnis zu stecken, Schwule nicht in Krankenhäusern zu behandeln, ihnen die Behandlung in Notaufnahmen zu verweigern, Menschen an ihre Krankenbetten zu fesseln oder sie aus ihren Krankenbetten zu werfen – und all das passierte auch schon.

Sie sind später in den Neunzigern nach Europa, genauer gesagt nach Paris gezogen.

Ich war auch in Amsterdam und Berlin aktiv…

… und ich erinnere mich an einige Aktionen der Berliner ACT UP-Gruppe. Aber die erreichten nie das Ausmaß, die Radikalität und die Schlagkraft von Gruppen wie ACT UP New York, Chicago oder San Francisco. Woran lag das?

Die Gay-Bewegung  in den USA hatte sich früher und anders entwickelt als in Europa. Sie stand auf einer anderen Basis – denken wir an die Frauenbewegung, die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen und deren Widerstandsformen. In den USA traten zu der Zeit die politische und christliche Rechte in den Vordergrund und politisierten das Thema in einem ganz anderen Ausmaß. In Europa dagegen gab es unterschiedliche Akteure, und die staatlichen Gesundheitssysteme führten dort zu der Annahme, dass der Staat auf vielerlei Arten auf die Bedrohung reagieren würde. Ich erinnere mich, dass ich ACT UP Paris bei einer ihrer ersten Konfrontationen mit den damaligen Anhänger_innen Le Pens dokumentierte, aber das war 1992, das geschah also mit einer zeitlichen Verzögerung. Außerdem organisierten sich die Schwulen und Lesben in Europa sehr viel formaler, mehr in linken Organisationen und nicht so sehr als Schwule und Lesben.

Ein Act Up-Graffiti an der Berliner Mauer.
Ein Act Up-Graffiti an der Berliner Mauer.
© Rory Finneren from Washington, DC (Act Up!) [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

In Deutschland boten die Grünen von Anfang an diese politische Heimat.

Und das war eben eine ganz andere Herangehensweise als die direkte Aktion.

ACT UP existiert noch immer, aber heute ist sowohl die Gruppe als auch die Zeit eine andere. Gibt es ein Vermächtnis von ACT UP? Und gibt es eine Zukunft für ACT UP?

Bei Themen wie Brustkrebs, Hepatitis oder Tuberkulose sind durch das Vorbild ACT UP Patient_innen-Lobbys entstanden. Auf fast jeder Gesundheitskonferenz sind heutzutage auch die Patient_innenbewegungen vertreten, die zudem von Anfang an an Studien beteiligt und in den Ethikkommissionen gehört werden und mitbestimmen. Während der Ebola-Krise habe ich mit einigen New Yorker Aktivist_innen sehr schnell ACT UP AGAINST EBOLA ins Leben gerufen, damit die offiziellen Stellen die Lektionen aus der Aids-Krise lernen und nicht die gleichen Fehler machen. Das ACT-UP-Netzwerk ist noch immer eine aktive Waffe bei Themen, die öffentliche Gesundheit betreffen. Die Beteiligung der Betroffenen gilt heutzutage tatsächlich als so was wie beste Praxis.

Das Interview ist zunächst auf magazin.hiv erschienen, dem Magazin der Deutschen Aidshilfe.

Lesen Sie hier auch, wie vor 30 Jahren das erste Safer-Sex-Poster in Deutschland entstand. Mehr LGBTI-Themen finden Sie auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels. Folgen Sie dem Queerspiegel in den sozialen Netzwerken:

Dirk Ludigs

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