Baerbocks neue Rolle und „beschämende“ Debatten: Eine Kanzlerkandidatin unter Beobachtung
Es gab einen Hype um ihre Kandidatur, umso genauer wird nun jeder Stein bei Annalena Baerbock umgedreht – und sie feilt am Bild der emanzipierten Kandidatin.
Annalena Baerbock wird nun anders betrachtet und erlebt all die Härten und Absurditäten einer Kanzlerkandidatur. Mal geht es um Fake-News bis hin zu angeblichen Nacktfotos, dann wird ihr ein angeblich nicht ordnungsgemäßes Studium vorgeworfen. Nun hat sie deutlich Stellung bezogen, wie sie sich die Rollenverteilung mit ihrem Mann vorstellt, sollte sie in das Kanzleramt einziehen.
In einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ offenbarte die 40-Jährige, dass ihr Ehemann Daniel Holefleisch (48), der bisher als „Senior Expert Corporate Affairs“ bei der Deutschen Post arbeitet, ein Vetorecht gegen ihre Kandidatur hatte, aber sein Okay gegeben hat. Er ist bestens vernetzt in der Partei und auch bei Parteitagen als geselliger Gast meist dabei, um Baerbock zu unterstützen.
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Auch wenn er in der neuen Rolle etwas mehr Zurückhaltung üben muss, in der Vergangenheit hat er auch schon mal Missinterpretationen über seine Frau persönlich gerade gerückt. Eine Journalistin warf Baerbock im November vor, beim Online-Parteitag mit dem Auftritt in einem weißen Kleid eine Analogie zu US-Vizepräsidentin Kamala Harris ziehen zu wollen, die nach dem Wahlsieg in weiß aufgetreten war.
Holefleisch antworte via Twitter, dass der Grund banaler gewesen sei: „Ehrlich gesagt hat sie am Tag vor dem Parteitag einfach ein pinkes und ein weißes Kleid aus dem Schrank genommen, um gute Kontrastfarben zum diesmal sehr dunklen Hintergrund zur Auswahl zu haben.“ Hosenanzüge möge sie halt nicht, so Holefleisch.
"Mein Mann übernimmt die Arbeit zuhause"
Baerbock betonte nun in der "Bild am Sonntag": „Die Verantwortung des Kanzlerinnenamtes bedeutet, Tag und Nacht zur Verfügung zu stehen.“ Dies könne sie, „weil mein Mann in dem Fall voll Erziehungszeit nehmen würde“. Sie haben eine fünf- und eine neunjährige Tochter. Bereits jetzt sei ihr Partner für die Erziehungs- und Hausarbeit zuständig.
„Mein Mann übernimmt die volle Verantwortung und Arbeit zuhause“, sagte Baerbock. Er habe schon vor längerem seine Zeit im Job reduziert, „weil ich oft frühmorgens aus dem Haus gehe und in der Nacht nach Hause komme“. Er kümmere sich um Kita, Schule, Hausaufgaben und Pausenbrote. Er werde in Wahlkampfendphase ab August bereits eine Auszeit nehmen und ganz zuhause sein, „auch um beim Schulanfang unserer jüngeren Tochter als Vater da zu sein“. Ihre Töchter wüssten aber, „wo mein Herz und mein Zuhause sind“. In dem Interview verriet sie auch, dass sie schon mal einen Joint geraucht habe, „war aber echt nicht so meins.“
Ohnehin wäre es fragwürdig, wenn ihr Mann weiter als Post-Lobbyist arbeiten würde, wenn sie ein Regierungsamt bekleidet. Etwas in den Hintergrund gerieten da ihre inhaltlichen Klarstellungen: Perspektivisch ist sie für die Abschaffung von Kurzstreckenflügen. Auch Billigpreise wie 29 Euro für Mallorca-Flüge dürfe es nicht mehr geben, wenn man es mit der Klimapolitik ernst meine: „Jeder kann Urlaub machen, wo er will. Aber eine klimagerechte Besteuerung von Flügen würde solche Dumpingpreise stoppen.“
Zudem will Baerbock bei Neubauten eine Pflicht für Solardächer. Zwar betont sie, die soziale Komponente beim Klimaschutz im Blick zu haben, auch etwa einen finanziellen Ausgleich bei höheren Spritpreisen für Pendler. Aber das Thema einer gerechten, nicht weitere Schieflagen produzierenden Klimapolitik, wird ein großes Wahlkampfthema.
Martin Schulz kritisiert "beschämende" Baerbock-Debatte
Wie sehr Baerbock inzwischen auch wegen Nichtigkeiten angegriffen wird, zeigte eine andere Debatte am Wochenende in sozialen Medien. Dort ergoss sich Häme unter dem Schlagwort "#studierenwieBaerbock".
Dabei ging es darum, dass sie nach einem Vordiplom an der Universität Hamburg in Politikwissenschaft mit dem Nebenfach Öffentliches Recht an der London School of Economics and Political Science einen Master in Öffentlichem internationalen Recht machte und sich seither als studierte Völkerrechtlerin bezeichnet.
Der Vorwurf: Sie habe nicht den dafür notwendigen vorherigen Bachelorabschluss gemacht. Es war damals jedoch die Phase des Übergangs, der Abschied von den klassischen Diplom- und Magisterstudiengängen, weshalb auch ein Vordiplom bei Masterstudiengängen im Ausland als Zugangsberechtigung anerkannt wurde.
Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz meint, diese Debatte sei beschämend. „Erstens hat Frau Baerbock ein beachtliches Studium absolviert. Zweitens kann man auch ohne Studium unser Land exzellent führen. Bestes Beispiel: Willy Brandt.“ Und nicht zu vergessen: Der erste Grünen-Außenminister Joschka Fischer war Studienabbrecher.
Wird Baerbock ein linkes Wahlprogramm aufgedrückt?
Jenseits dieser ganzen Nebenschauplätze und mitunter Belanglosigkeiten lauert ein echtes Problem für Baerbock in den vielen Änderungsanträgen für den Parteitag vom 11. bis 13. Juni, bei dem das Wahlprogramm verabschiedet werden soll. Bundestagsfraktionsvize Oliver Krischer ist Mitglied der Antragskommission. "Es gibt knapp 3500 Änderungsanträge", sagt er auf Tagesspiegel-Anfrage. Allein das Kapitel Lebensgrundlagen habe 900.
Das Risiko für Baerbocks Kandidatur: Je mehr linke Forderungen durchgedrückt werden (hier eine Übersicht der Anträge), desto größer das Risiko, Wechselwähler in der Mitte zu vergraulen.