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50 Jahre Kniefall Willy Brandts in Warschau: Eine ikonische Geste, die doch nicht alles sagte

In Deutschland ist die Geste vor dem Ghetto-Ehrenmal Teil des kollektiven Erinnerns. Polen erinnert sich noch anders. War es das falsche Denkmal? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

 

Manche Bilder werden zu Ikonen der Zeitgeschichte. Die Bilder vom Kniefall Willy Brandts am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal für den Aufstand im jüdischen Ghetto von Warschau gehören dazu.

Die Geste des Bundeskanzlers vor genau 50 Jahren war überraschend und emotional, in einer Zeit, als das Morden der deutschen Besatzungsmacht erst 25 Jahre zurücklag und die Bundesrepublik und Polen noch keine diplomatischen Beziehungen unterhielten.

Für die Deutschen ist der Kniefall ein kollektiver „Erinnerungsort“ im Sinne des französischen Historikers Pierre Nora, ein Kristallisationspunkt, an dem sich das kollektive Gedächtnis in besonderer Form kondensiert.

Aber die Rezeptionsgeschichte dieses Bildes zeigt auch, dass dies für Polen nicht der Fall war. Daran kann man ablesen, wie unterschiedliche Erinnerungen und Erwartungen, trotz aller Bemühungen, immer wieder zu Misstönen in einer Beziehung führen.

Die Stimmung beim Besuch war eisig - da kniet dieser Deutsche plötzlich nieder

Der SPD-Kanzler, Repräsentant der Nation, die Polen im Zweiten Weltkrieg überfallen, in einem Vernichtungskrieg mehr als sechs Millionen Einwohner getötet und die Hauptstadt Warschau systematisch in Schutt und Asche gelegt hatte, wollte die Beziehungen normalisieren.

Noch gab es nur Handelsvertretungen, aber keine diplomatischen Beziehungen zwischen den Nachbarländern. In der Bundesrepublik war die Anerkennung der Oder- Neiße-Linie als Grenze zu Polen bis dahin nicht möglich gewesen, entsprechend groß das Misstrauen in Polen gegenüber den Deutschen, die sich in der Geschichte mehrfach Teile des Nachbarlandes einverleibt hatten.

Die Stimmung beim diesem ersten Staatsbesuch eines deutschen Kanzlers seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg war nach Berichten von Delegationsmitglieder eisig. Und da kniet dieser Deutsche, der selbst im Widerstand im norwegischen Exil gewesen war, vor dem Ghetto-Ehrenmal nieder. 30 lange Sekunden lang. Eine Demutsgeste, die im christlichen Kulturkreis auch die Bitte um Vergebung ausdrückt. Und damit die Anerkennung von Schuld.

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Angeblich nicht geplant, tat Brand „was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, wie er in seinen Memoiren sagt. Die Geste und das Bild davon entfalteten umso mehr Wirkung, als Politik damals noch nicht so durchinszeniert war wie heute und es noch keine Bilderflut gab. Und weil Willy Brandt die notwendige Glaubwürdigkeit mitbrachte.

In Polen wurde die Geste zunächst kaum wahrgenommen

Was heute als Durchbruch, als Türöffner für eine vorsichtige Normalisierung der Beziehungen gefeiert wird, wurde zunächst vor allem außerhalb von Deutschland und Polen so wahrgenommen. In der Bundesrepublik war dies überhaupt erst der Beginn eines neuen Erinnerns und 48 Prozent der Menschen hielten laut einer „Spiegel“-Umfrage die Geste für „übertrieben“. Hier wurde der Kniefall als Geste an die polnische Nation wahrgenommen.

In Polen wurde er als Geste an die ermordeten Juden rezipiert. Das Foto wurde nur klein oder so abgedruckt, dass man nicht sah, dass Brandt kniete, die DDR ignorierte es auch. Damit erreicht die Wirkung der Geste damals nur kleine Zirkel. Die Würdigung der Brandtschen Geste erfolgte im Jahr 2000, als in Warschau ein Willy-Brandt-Platz eingeweiht wurde mit einer Gedenktafel, die den knienden Kanzler zeigt.

Das war weitere 30 Jahre später. Eine bemerkenswerte Versöhnungsgeste in einer Stadt, in der die Wehrmacht nach dem niedergeschlagenen Warschauer Aufsttand Rache geübt und systematisch Haus für Haus und Museum für Museum in die Luft gesprengt hatte.

Der rassistische Vernichtungskrieg gegen die gesamte polnische Zivilbevölkerung bleibt unterbelichtet in Deutschland

Ein „polnischer Erinnerungsort“ wurde der Kniefall vor dem Ehrenmal für die jüdischen Ghettobewohner damals nicht. Der rassistische Vernichtungskrieg gegen die gesamte polnische Zivilbevölkerung, auch die nicht-jüdische, der praktisch mit dem Tag des Überfalls auf Polen begann, ist in Polen viel eher ein kollektiver „Erinnerungsort“ – und in Deutschland eine Leerstelle.

Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 in Warschau vor dem Ehrenmal für die Helden des Aufstandes im jüdischen Ghetto.
Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 in Warschau vor dem Ehrenmal für die Helden des Aufstandes im jüdischen Ghetto.
© picture alliance / dpa

Hier wird gern der Ghetto-Aufstand von 1943 gern mit dem Warschauer Aufstand von 1944 verwechselt. Dass neben den etwa drei Millionen jüdischen Polen weitere drei Millionen nicht-jüdische Polen ermordet wurden, ist im deutschen kollektiven Gedächnis nicht verankert.

Das mögen die Deutschen, die sich gerne als Weltmeister der Aufarbeitung der eigenen Geschichte sehen, vielleicht nicht hören. Aber sie sollten es beim Umgang mit dem Projekt eines Denkmals für die polnischen Opfer der NS-Herrschaft beherzigen. Der Bundestag hat ein solches Projekt ja kürzlich angeschoben.

Rein rational wäre es aus deutscher Perspektive sinnvoll, ein Denkmal für alle Opfer der NS-Herrschaft zu errichten, ungeachtet deren Nationalität. Aber diesmal geht es nicht um deutsche Befindlichkeiten. Und wenn unser Nachbar im Osten das nicht unbegründete Gefühl hat, dass es in Deutschland an Wissen und Empathie für das besondere Leiden der polnischen Bevölkerung mangelt – dann ist das Grund genug, eine solche Gedenk- und Begegnungsstätte zu schaffen. Die Zeit der ikonischen Gesten ist vielleicht vorbei. Die Notwendigkeit des stärkeren Verständnisses füreinander ist es nicht.

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