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Berlin-Kreuzberg: Deutsch-Unterricht für Flüchtlinge
© Mike Wolff

Deutsch-Unterricht für Flüchtlinge: Eine Eintrittskarte in die Kulturnation

Nie haben so viele erwachsene Menschen die deutsche Sprache gelernt wie seit dem Herbst 2015. Kann es etwas Beglückenderes geben? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wer eine Sprache lernt, taucht in ihr Wesen ein. Ihm erschließt sich eine neue Welt. Ein Deutscher, der Französisch lernt, fängt nach einiger Zeit an, auch Französisch denken zu können. Ein Deutscher, der Altgriechisch lernt, fühlt die Antike. Spracherwerb bedeutet Bewusstseinserweiterung.

Das Auswärtige Amt fördert durch seine 160 Goethe-Institute weltweit Sprachkurse für Menschen, die Deutsch lernen wollen. Mehr als 200.000 Interessierte nehmen jährlich daran teil. Ob im Kaukasus oder im Kongo: Die Weiterverbreitung des Deutschen ist ein Staatsziel. Das „Netzwerk Deutsch“, eine Initiative des Auswärtigen Amts, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, des Goethe-Instituts und der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, gibt in seiner Broschüre „Die deutsche Sprache in der Welt“ einen eindrucksvollen Überblick über die Projekte.

Im Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR heißt es: „Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.“ Doch die deutsche Sprache, gewissermaßen die Eintrittskarte in die deutsche Kultur, steht von zwei Seiten unter Druck – zum einen durch die stetig zunehmende Bedeutung des Englischen als Wissenschaftssprache, zum anderen durch die allgemeine Reduktion des Ausdrucks durch Kiezsprache, SMS-Sprache, Vertwitterung.

Ein Syrer, der Deutsch lernt, fühlt irgendwann auch deutsch

Vor diesem Hintergrund müsste das folgende Faktum vor allem auch bei jenen, die Deutschland lieben, Jubel auslösen: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben so viele erwachsene Menschen die deutsche Sprache gelernt wie in den Wochen und Monaten seit dem Herbst 2015. Sie kommen aus Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea. Der Besuch von Sprachkursen ist der erste Schritt in die Integration.

Natürlich wäre es naiv, von den Neuankömmlingen zu erwarten, sich alsbald in einen zweiten Franz Kafka, Thomas Mann oder Bertolt Brecht zu verwandeln. Aber das tun der friesische Fischer und der bayerische Bauer auch nicht. Deren Dialektsprache kann als Verständigungsmittel oft nur eingeschränkt dienen. Jede Überheblichkeit verbietet sich.

Was zählt, ist das: Ein Syrer, der Deutsch lernt, fühlt irgendwann auch deutsch. Ihm öffnet sich die Welt der so oft gescholtenen Kulturnation. Er tritt in sie ein. Er beginnt die Gemeinschaft der Ursprungs-Deutschen zu verstehen. Das wiederum befähigt ihn, das Verstandene zu vermitteln. Er wird zum Botschafter Deutschlands. Früher wurden Länder überfallen und kolonisiert, um die Werte des Christentums, des Abendlandes, der Demokratie oder des Liberalismus zu verbreiten. Heute kommen die Menschen zu uns. Und ob aus freien Stücken oder als Flüchtling: Sie lernen Deutsch, sie kommen uns näher, sie erweitern ihren Horizont.

Warum freut sich keiner darüber? Warum mosern ausgerechnet die, denen nach eigenem Bekunden an der Pflege und Erhaltung des Deutschen sehr viel liegt, am lautesten über Menschen, die Deutsch lernen, deutsch werden, Deutschland verstehen, deutsche Werte vermittelt bekommen? Kann es denn, aus nationaler Sicht, etwas Schöneres, Beglückenderes geben?

Die besten Deutschen wurden von Deutschen gehasst

Ein Verdacht drängt sich auf. Vielleicht haben die Flüchtlingsgegner Angst. Vielleicht befürchten sie, dass jeder, der in die deutsche Sprache eintaucht und die deutschen kulturellen Traditionen kennenlernt, auch schnell deren Schattenseiten sieht. Denn diese zwei Sätze sind ebenfalls wahr. Erstens: Die besten Deutschen wurden von Deutschen gehasst. Zweitens: Die besten Deutschen haben an Deutschland gelitten.

Deutsche Kultur, das heißt in regelmäßigen Abständen eben auch: Rausschmiss, Flucht, Exil. Karl Marx floh nach London, Heinrich Heine nach Paris, Kurt Tucholsky nach Schweden, Thomas Mann nach Kalifornien, Anna Seghers nach Mexiko. Eine vollständige Liste ergäbe ein kleines Buch. Kein Zufall auch, dass der Begriff „inneres Exil“ eine deutsche Prägung hat. Kein Zufall auch, dass Polemik und Satire als oft gewählte literarische Ausdrucksformen von Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen, besonders im deutschsprachigen Raum florieren.

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„Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein.“ Das schrieb Arthur Schopenhauer. „Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, dass sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, dass es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation, mit seiner Liebe umfasst.“ Das schrieb Heinrich Heine, und weiter: „Der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.“

Das Erbe von Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Schopenhauer, Tucholsky, Heine und all der anderen, die im Geiste einer kosmopolitischen Humanität schrieben und dachten, könnten all jene entdecken, die jetzt gerade neudeutsch werden. Das bedroht das Fundament derer, die aus vermeintlich patriotischer Gesinnung glauben, das Deutschtum verteidigen zu müssen. Deshalb wettern sie gegen die Flüchtlinge. Eine andere Erklärung gibt es nicht.

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