Freiheitsrechte und Corona: Eine Demonstration sollte vieles sein, aber kein Risiko
Die Arten, sich unter freiem Himmel zu versammeln, ändern sich. Der Staat muss sich daran anpassen – notfalls auch mit Verboten. Ein Kommentar.
Sie ist ein vornehmes Grundrecht, die Versammlungsfreiheit, weshalb die Gerichte sie großzügig schützen. Das ist gut so, auch und gerade in Pandemiezeiten, in denen das Motto „Querdenken“ wie an diesem Wochenende in München und letztens in Berlin Leute auf die Straße treibt.
Demonstrieren, das ist das Besondere, ist Politik unter Einsatz des eigenen Körpers. Spruchbänder, Sprechchöre und Megafonreden sind eher Beiwerk. Es sind die Akteure und ihre Leiblichkeit, die zählen. Bisher vor allem in der Masse.
Es ist kaum zu übersehen, dass sich hier etwas ändert.
Es ist seltener geworden, dass Hunderttausende zusammenkommen wie einst im Bonner Hofgarten für atomare Abrüstung oder später Millionen weltweit gegen den Irakkrieg. Die Loveparade, kurzzeitig ein politisches Format, gilt als eine deutsche Rekorddemo mit weit mehr als einer Million Mitläufer – Zahlen aus einer früheren Zeit.
Ein Dokument beeindruckender Zustimmung zur Mainstream-Pandemiepolitik
In gewisser Weise muss angesichts von öffentlichen Diskussionen und politischem Zwist der Berliner Anti-Coronapolitik-Auflauf Anfang August als Enttäuschung gesehen werden. Unter 40000 Teilnehmer sollen es gewesen sein, davon – sagt jetzt der Verfassungsschutz, – bis zu 3000 Rechtsextreme und Reichsbürger, die sich bekanntlich vor jeden Karren spannen lassen, solange sie damit die Demokratie in den Abgrund ziehen können.
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Zieht man weiter jene ab, die sich in die Esoterik verabschiedet haben oder notorisch als Opfer überlegener Mächte empfinden, sind die „Querdenken“-Demos aufgrund objektiver Nichtteilnahme anderer ein Dokument beeindruckender Zustimmung zur Mainstream-Pandemiepolitik von Parlament und Regierung.
Masse macht's nicht mehr
Aber Masse ist eben nicht mehr alles. Wie eine Hausstaubmilbe unter dem Mikroskop als Ungeheuer erscheint, so verwandeln Smartphones und atemlose Live-Reportagen manche Demo-Szenen in Volksaufstände.
Die Neuauflage der Machtergreifung endete in Berlin als Treppenwitz, durfte aber als Sturm auf den Reichstag viral Karriere machen.
Demo-Veranstalter wissen, dass sie Bilder und Geschichten zu produzieren haben; man muss das Volk bewegen, damit es sich bewegt, mit Empörung, Aufregung, Mitgefühl. Durch eine Straße laufen, sich auf einem Platz versammeln ist dafür zu wenig.
Ratlos stehen Justiz und Verwaltung neuen Protestformen gegenüber
Je kleiner die Demos werden, desto raumgreifender werden sie. Etwas ratlos stehen Justiz und Verwaltung Protestformen gegenüber, die auf Dauer angelegt sind und für die eigene Infrastrukturen geschaffen werden; „Protestcamps“ sind ein Beispiel oder, wie in Berlin geplant war, eine „Dauermahnwache“ auf der Straße des 17. Juni.
Statt eines Umzugs wird eine Belagerung veranstaltet. Wo sollen hier die Grenzen verlaufen? Das Grundgesetz wirkt sprachlos.
Zweifel an den Berliner Gerichtsbeschlüssen
Die „Dauermahnwache“ ist Berlin vorerst erspart geblieben, dank des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Entscheidung (Az.: 1 BvQ 94/20) ist es wert, ins Gedächtnis gerufen zu werden, denn sie weckt Zweifel an den Beschlüssen der Berliner Verwaltungsgerichtsbarkeit, welche die Demos entgegen dem Verbot von Innensenator Andreas Geisel (SPD) erlaubt hatte.
Die hiesige Justiz stellte dafür auf die Corona-Rechtsverordnung des Landes ab, die für Demos viel Freiraum vorsah. Ein falscher Fokus, fand das Bundesverfassungsgericht und betonte als „prinzipiell gleichwertig“ zur Versammlungsfreiheit das Grundrecht Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Pandemiezeiten. Auch hierfür hat der Staat einen Schutzauftrag, der sogar Demoverbote rechtfertigen kann.
Eine Perspektive, die wichtig zu sein scheint. Man wird auch künftig gute Gründe brauchen, um die Versammlungsfreiheit einzuschränken. Aber es gibt sie. Für viele sind Demos eine Bereicherung, für andere nun mal eine Belastung. Was sie nicht werden sollten, ist ein Risiko.
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