Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos: „Ein Preis für die Millionen Opfer in Kolumbien“
Präsident Juan Manuel Santos ist der neue Friedensnobelpreisträger – nun soll er den Frieden mit der Farc-Guerilla retten.
Die Nachricht aus Oslo überbrachte ihm Sohn Martin in aller Herrgottsfrühe. Um 4 Uhr Ortszeit klingelte im Präsidentenpalast das Telefon: Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos ist der diesjährige Friedensnobelpreisträger. Die Auszeichnung soll nach dem Nein bei der Volksabstimmung eine Wende in den ins Schlingern geratenen Friedensprozess bringen. Und sie rettet die Präsidentschaft des angeschlagenen Staatsoberhauptes.
Santos wirkt überrascht, als ihn das Nobelpreiskomitee am Morgen anruft. Er spricht zwar perfekt Englisch, aber diesmal überschlägt sich seine Stimme. Das ist ungewöhnlich für den gelernten Journalisten, der es gewohnt ist, langsam und eindringlich zu sprechen, um seine Botschaften zu platzieren. Der 65-Jährige kämpft nicht nur mit der Müdigkeit, er kämpft auch mit seinen Emotionen. „Vielen Dank. Danke“, sagt er hektisch ins Telefon. Dann erst sammelt er seine Gedanken. „Das ist ein Preis für die Millionen Opfer dieses Krieges.“ Er werde nun weiter für den Frieden in seinem Land kämpfen. Er werde nicht aufgeben. Als die marxistische Farc-Guerilla, die sich als Anwalt der Landbevölkerung sieht, den bewaffneten Kampf begann, war er 13 Jahre alt.
52 Jahre dauerte der Krieg, der vor allem ein Krieg gegen die Landbevölkerung war. Mehr als 220 000 Menschen starben, 6,6 Millionen wurden vertrieben, viele werden vermisst. Die Mehrzahl der Opfer sind Bauern, Arbeiter oder Slumbewohner. Sieben Millionen Hektar Land riss eine räuberische Elite mit Gewalt an sich. Fruchtbares Land, Land mit Gold, Smaragden und anderen Bodenschätzen. Das Land sollte laut Friedensvertrag wieder an seine Eigentümer zurückgegeben werden.
Die Zeitung „El Tiempo“ jubelte am Freitag: „Historisch – Juan Manuel Santos Friedensnobelpreisträger“. Es ist das wichtigste Blatt im Land, das Vater Enrique Santos zur vollen Blüte entwickelte. Begeistert nahmen auch die Opferverbände die Nachricht auf. Fast im Minutentakt sendete der Präsidentenpalast Grußadressen von Menschenrechtlern und Kriegsopfern. Und auch der Farc-Kommandeur Timoleón Jiménez alias Timochenko, mit dem Santos den Vertrag vereinbart hatte, gratulierte.
Zuvor hatten die Medien des Landes den Traum vom Friedensnobelpreis bereits beerdigt: Keine Chance mehr nach dem Nein bei der Volksabstimmung über den Friedensvertrag mit der Farc waren sich „El Tiempo“, „El Espectador“ und „Semana“ einig.
Eine Woche zuvor stellte die Niederlage im Referendum alles in Frage
Es kam alles anders – nur knapp eine Woche nach der dramatischen Niederlage beim Referendum, die alles in Frage stellte: den Frieden mit den Rebellen, Santos’ Präsidentschaft, ja seine gesamte Lebensleistung. Vier Jahre lang hatten seine Unterhändler in der kubanischen Hauptstadt Havanna den am Ende 297 umfassenden Vertrag ausgefochten. Am Ende war es ein Abkommen, das etliche handwerkliche Fehler enthielt und damit angreifbar wurde für die vielen Gegner aus dem rechtskonservativen Lager. Aber ein Abkommen, zu dem Santos stand. Er wähnte sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere und fühlte sich sicher. Zu sicher.
Die feierliche Unterzeichnung des Vertrags in Cartagena vor der Volksabstimmung geriet durch das Nein zur Farce. Auch wenn das Nein mit 50,2 Prozent – bei einer Wahlbeteiligung von 37,4 Prozent – denkbar knapp ausfiel. Alle Bemühungen schienen vergebens, die bewaffneten Rebellen machten sich bereits auf den Weg zurück in ihre Stellungen im Dschungel. Doch seit diesem dramatischen Sonntag geht ein Ruck durch das Land. Während viele internationale Beobachter Kolumbien schon wieder im Krieg sahen, passierte etwas Außergewöhnliches in Bogota, Medellin und Cali. Plötzlich kam Rückendeckung für Santos auch von der Straße. Zehntausende Studenten marschierten mit Kerzen und weißen Hemden zur Plaza Bolivar im Herzen der Stadt. Der Präsident konnte hören, wie seine Landsleute die Nationalhymne sangen. Sein Amtssitz liegt nur einen Steinwurf weit weg. Santos forderte das Nein-Lager auf, Farbe zu bekennen. Es müsse schnell gehandelt werden, damit der Friedensprozess nicht in tausend Stücke zersplittere. Seit diesem Freitag kann er das auch mit der moralischen Autorität eines Friedensnobelpreisträgers tun.
Die internationale Anerkennung für die Befreiung Betancourts veränderte Santos
Nun ist Santos’ Gegenspieler Alvaro Uribe gefragt, während dessen Präsidentschaft Santos als Verteidigungsminister die Farc-Rebellen jagte und die Politikerin Ingrid Betancourt aus der Geiselhaft befreite. Die internationale Anerkennung für diesen gewaltfreien Coup war es, die Santos veränderte. Fortan suchte er im Gegensatz zu Uribe das Gespräch mit der Guerilla. Darüber zerbrach die politische Freundschaft. Uribe gratulierte seinem Nachfolger mit einem Seitenhieb. „Ich beglückwünsche Präsident Santos zum Friedensnobelpreis“, schrieb er auf Twitter. „Ich hoffe, dass er dazu führt, dass der für die Demokratie schädliche Vertrag geändert wird.“ Uribe hatte das Abkommen mit den Farc kritisiert, vor allem die Strafnachlässe für die Rebellen und deren künftige politische Beteiligung.
„Präsident Santos hat alles für den Frieden riskiert“, sagte Papst Franziskus vor einigen Tagen im Vatikan. Damals waren die Worte als Rückendeckung bei der Volksabstimmung gedacht. Und helfen will auch das Nobelpreiskomitee in Norwegen: Es will mit dem Preis einen am Rande des Scheiterns stehenden Friedensprozess unterstützen, der durch das Nein der Kolumbianer und ihren Zweifel an einem nicht zu Ende gedachten Vertrag neu ausgehandelt werden muss. Und Osloi will auch ein klein wenig die eigene Ehre retten: Norwegen ist eine der Garantiemächte des gescheiterten Friedensabkommens.
Am Freitagmorgen ist die Schmach des Wochenendes vergessen. Hinter dem Präsidenten steht seine Frau María Clemencia Rodríguez de Santos. Mit weißer Bluse. Sie umarmt ihren Mann. Nach einer Woche voller Demütigungen ist das vielleicht das Bild des Tages. Juan Manuel Santos ist zurück. Der Frieden in Kolumbien ist damit noch längst nicht sicher. Aber Santos sagt, was er schon seit Monaten immer wieder wiederholt: „Wir sind ganz, ganz nah am Frieden.“ Mit der Hilfe Oslos sogar ein ganzes Stück näher.
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