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Passanten auf einem Gehweg.
© Arno Burgi / picture alliance / dpa

Populismus: Ein Plädoyer für eine radikale Zukunftspolitik

Populismus trägt durch die Auseinandersetzung mit ihm dazu bei, dass die Zukunft besser wird - wenn die Komplexität der Politik bewältigt wird. Ein Gastbeitrag.

Leben wir in einer Zeit der Zukunftslosigkeit? Umfragen zufolge glaubt eine große Mehrheit der Deutschen nicht mehr daran, dass das Land die besten Jahre noch vor sich hat. Ein Land, dessen Bindemittel die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ ist, ist aber nicht zukunftsfähig. Das Gefährliche ist seine Neigung, die tatsächliche mit einer idealen Heimat zu verwechseln. Der 2017 verstorbene Philosoph Zygmunt Bauman nannte das „Retropien“: Visionen, die sich aus einer verlorenen Vergangenheit speisen. Profiteure sind linke und rechte Populisten.

Populisten sind Reaktionäre, die sich nach einer intakten Welt zurücksehnen, sie kämpfen gegen Fortschritt und Aufklärung. Sie mögen keine „Nazis“ sein, aber Radikale im Geiste eines regressiven Gesellschaftsmodells. Zur Zukunft wollen sie rein gar nichts beitragen. Der Populismus ist ein kulturelles und mentales Phänomen. Seine Zukunft entscheidet sich daher in den Köpfen.

Aber es gibt einen Trick der Geschichte: Wider seine Intention trägt der Populismus durch die Auseinandersetzung mit ihm dazu bei, dass die Zukunft besser wird. Die eigentliche Herausforderung ist die Komplexität der Politik. Lässt die sich überhaupt noch bewältigen? Ja, durch eine präventive Politik, einen pragmatischen Possibilismus und progressive Politiker.

Angst vor der Wahrheit

Präventive Politik: Als den größten Fehler ihrer Amtszeit hat die Bundeskanzlerin das zu späte Erkennen der globalen Migrationsbewegung vor drei Jahren bezeichnet. Die strategische Befassung mit globalen und gesellschaftlichen Trends ist nicht die größte Stärke der deutschen Politik. Sie finanziert zwar etliche Thinktanks auf diesem Gebiet, ist aber nicht in der Lage, ihre Ergebnisse und Szenarien offen und öffentlich zu diskutieren.

Die Folge: Das Gefühl der Dringlichkeit ist hierzulande unterentwickelt. Beispiel Klimaschutz. Das Thema gehört zu den Topthemen in Umfragen. Den eigenen Lebensstil ändern will jedoch kaum jemand. Beispiel Migration: Je wohlhabender die Gesellschaften im Nahen Osten und Afrika werden, desto mehr (und nicht weniger) Migration wird in Zukunft von dort stattfinden. Über diese beiden Megathemen führen CDU/CSU und SPD keine öffentliche Debatte – aus Angst, ein Teil der Wahrheit könnte die Bürger verunsichern.

Pragmatischer Possibilismus: Erst der richtige Umgang mit Krisen und Konflikten entscheidet über den Erfolg von Organisationen, privaten wie politischen. Streitkultur wird zur neuen Leitkultur. Hans Rosling, der im vergangenen Jahr verstorbene Mediziner und Datenanalyst, nennt es die Kunst des Possibilismus (Möglichen). Es gibt keine Alternativlosigkeit. Jenseits von Optimismus und Pessimismus gilt es die Möglichkeit, einen pragmatischen Possibilismus zu entwickeln.

Possibilismus ist eine Lebenshaltung, die auf dem Möglichen basiert. Vom Optimisten unterscheidet sich der Possibilist dadurch, dass er das Schlechte nicht ignoriert, vom Pessimisten durch seine zuversichtliche Haltung. Possibilisten sehen eine gelungene Zukunft und fragen, wie man gemeinsam dort ankommt.

Voraussetzung ist ein gemeinsames Verständnis von Zukunft. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat vor wenigen Wochen auf einer Veranstaltung in Berlin von einer neuen 50/50-Gesellschaft gesprochen. Die eine Hälfte sieht er in den liberalen, urbanen und akademischen Weltbürgern, denen eine kulturell nationale, aber bei weitem nicht xenophobe Hälfte gegenübersteht. Diese verspürt eine permanente Verlustangst und sucht Schutz und Anerkennung.

Einwanderung zu managen sei, so Ash, Voraussetzung einer offenen Gesellschaft. Erst legale Migration schafft Wohlstand. Illegale, nicht geregelte Migration dagegen führt zu Kontrollverlust. Ash fordert von der Politik mehr Respekt gegenüber diesen 50 Prozent und eine „Redistribution von Würde“. Konkret geht es um Heimat und Anerkennung.

Heimat beginnt vor Ort in den eigenen vier Wänden, betrifft strukturschwache Regionen, die sich abgehängt fühlen und umfasst Europa als gemeinsamen Schutzraum gegenüber autoritären Staaten, die auf nationalistischen Protektionismus und xenophoben Populismus setzen. Heimat braucht einen aktiven und ermöglichenden Staat. Nur der Staat ist in der Lage, die verfassungsrechtlich gebotenen gleichwertigen Lebensverhältnisse herzustellen. Den Verlierern von Veränderungen raubt der Markt ihre Würde, die auch eine Politik der Alimentation ihnen nicht zurückgeben wird. Aufgrund von Strukturwandel, Digitalisierung und Automatisierung werden ganze Regionen wegkippen, wenn nichts geschieht. Das gilt vor allem für das Ruhrgebiet und die neuen Bundesländer.

Aus den vom Strukturwandel betroffenen Regionen müssen Zukunftsorte werden, wo mit Hilfe von Zukunftstechnologien innovative Produkte und gut bezahlte Arbeitsplätze entstehen. Konkret geht es um Elektroautos, Künstliche Intelligenz, Start-ups, exzellente Hochschulen und nachhaltigen Tourismus. Die Debatte über die Zukunft des deutschen „Soli“ und des künftigen EU-Haushalts müsste mit der Frage einer nachhaltigen, inklusiven und zielgerichteten Struktur- und Wachstumspolitik verbunden werden. Es geht um einen fairen Ausgleich zwischen den Gewinnern und den Verlierern des technologischen und ökologischen Wandels.

Neuer Politikertypus nötig

Progressive Politiker: Für die Gestaltung dieses Wandels braucht es einen neuen Politikertypus. Progressive Politiker nehmen den Kampf gegen die rechten und linken Reaktionäre auf und setzen auf eine Politik des Ausgleichs und der Versöhnung scheinbarer Gegensätze und Widersprüche. Sie verkörpern einen unternehmerischen Politikertyp. Bürger sind für sie keine Kunden, sondern Partner. Demokratie ist für sie mehr als wählen. Progressive Politiker wissen: In der Politik geht es nie nur um Fakten und Geld, sondern auch um Gefühle. Menschen sind auch moralische Wesen, die in einer gerechten und fairen Gesellschaft leben wollen. Politik darf nicht nur auf den Lärm der Lauten hören.

Der US-amerikanische Zeithistoriker Timothy Snyder fordert in seinem neuen Buch „Der Weg in die Unfreiheit“ eine „Politik der Verantwortung, die in längeren Zusammenhängen denkt“. Der Umbau der Industriegesellschaft, die in weniger als 30 Jahren weitgehend ohne Kohlendioxid-Emissionen auskommen will, wird teuer. Er wird allen einen Mentalitäts- und Lebenswandel abverlangen. Der Umbau kann zum Aufbau einer neuen Zukunft werden, wenn die Chancen für die Betroffenen überwiegen.

Wohnen und Mobilität müssen bezahlbar bleiben, niemand darf abgehängt werden, sonst verlieren die nötigen Veränderungen die Akzeptanz der Mehrheit. Dieselfahrer und die Bewohner von Gegenden außerhalb der Ballungsgebiete haben auch hierzulande Gründe gefunden, der Regierungspolitik das Vertrauen zu entziehen. Auch deshalb haben Union und SPD ihre Mehrheitsfähigkeit verloren. Mehrheitsfähig wäre eine neue, eine radikale Zukunftspolitik.

Daniel Dettling ist Zukunftsforscher und leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts (www.zukunftsinstitut.de). Zuletzt von ihm erschien im Zukunftsreport 2019 (Hg. Matthias Horx): „Was kommt nach dem Populismus?“

Daniel Dettling

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