10 Jahre deutsche Klimaziele: Ein Jahrzehnt gezaudert statt gehandelt
Deutschland lässt sich gern als Vorreiter beim Klimaschutz feiern. Doch die 2007 gesteckten Ziele werden verpasst. Es fehlt der Mut zu radikalen Lösungen. Ein Rückblick.
2007 gab es die berühmten Bilder von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD), damals Umweltminister: In roten Jacken in der Arktis. Vor Ort wollten sich die beiden die Folgen des Klimawandels anschauen. „Ich glaube, dass vor uns für die Bekämpfung des Klimawandels sehr entscheidende Jahre liegen“, sagte Merkel damals.
2007 war auch das Jahr, in dem Deutschland die Ratspräsidentschaft der EU sowie den Vorsitz der G7-Präsidenschaft bekleidete. Merkel und Gabriel konnte es gar nicht schnell genug gehen mit dem Klimaschutz. Im Dezember 2007 wurde das Ziel „Minus 40 Prozent“ für 2020 erstmals formuliert. Um diesen Anteil sollten die deutschen Emissionen im Vergleich zu 1990 sinken. Die Formulierung geschah in Vorbereitung auf den anstehenden EU-Gipfel.
„Merkel stellte zunächst eine Bedingung an das Ziel: Auch Europa sollte sein Klimaschutzziel 2020 auf Minus 30 Prozent erhöhen“, erinnert sich Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende. Der Think-Tank unterstützt mit wissenschaftlichen Studien den sauberen Wandel im Energiesektor. Diese Bedingung an die Europäische Union sei dann von Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag 2009 aufgehoben worden. Das Ziel wurde also von Union und FDP, die sich in den heutigen Tagen so skeptisch zeigen, ob es realistisch erreichbar ist, sogar verschärft.
Ausstieg aus Atomenergie nach Fukushima
Zurück nach 2007: Kurz vor Beginn der Weltklimakonferenz in Bali legte die Bundesregierung das „Integrierte Energie- und Klimaschutzprogramm“ (IEKP) als einen ersten Maßnahmenplan vor. Er sollte die „Weichen für eine hochmoderne, sichere und klimaverträgliche Energieversorgung stellen.“ „Aber dann im weiteren Verlauf hat die Regierung zur Erreichung der Ziele faktisch wenig getan“, so Graichen weiter. 2010, unter der schwarz-gelben Koalition, wurde dann das sogenannte „Energiekonzept 2010“ beschlossen. Auch in diesem galt „Minus 40 Prozent“, die Laufzeitverlängerung für die Atomkraft war allerdings eingerechnet.
Zum damaligen Zeitpunkt errechnete eine Studie des Öko-Instituts für das Bundesumweltministerium, dass Deutschland mit den insgesamt 29 Maßnahmen aus dem IEKP auf höchstens minus 30 bis minus 33 Prozent kommen würde, und das auch nur für den Fall, dass alles wie erwartet laufe. Aus heutiger Sicht war das eine punktgenaue Vorhersage, denn mit diesem Fehlkorridor rechnet inzwischen auch das Bundesumweltministerium. „Die Ansage lautete: Die restlichen Prozent holen wir noch rein“, so Graichen. Nach Fukushima im März 2011 beschloss die Regierung, aus der Atomenergie auszusteigen. Die wegfallenden Strommengen mussten hauptsächlich Braun- und Steinkohlekraftwerke erbringen. Doch auf diesen Umstand hin wurden die Klimaschutzmaßnahmen nicht angepasst.
Der nächste Schritt kam, als es schon absehbar eng wurde. 2014 legte Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) den „Klimaaktionsplan“ auf. Verschiedene Organisationen, darunter Greenpeace, hatten gewarnt, dass die Lücke bei den Klimazielen weiterhin groß bleibe. Der Plan alarmierte allerdings die Industrie und die fossilen Stromerzeuger. Sigmar Gabriel, zum damaligen Zeitpunkt Wirtschaftsminister, fegte die von den Umweltverbänden geforderte „Klimaabgabe“ zwar nicht sofort vom Tisch, sondern legte sogar einen ausformulierten Plan vor. Dem zufolge sollten die besonders alten und ineffizienten Braunkohlekraftwerke aus dem Markt gedrängt werden. Denn Gabriel war durchaus der Meinung, dass die fossile Energiewirtschaft ihren Beitrag zum Klimaschutz leisten muss. Schließlich ist sie für ein Drittel der deutschen Klimalast verantwortlich.
Doch der Druck von Michael Vassiliadis, Chef der Industriegewerkschaft IGBCE, und Garrelt Duin (SPD), damals Energieminister des an Braunkohle reichen Nordrhein-Westfalens, war enorm. Wirtschaftsminister Gabriel knickte ein. Vereinbart wurde eine schrittweise eingeführte Sicherheitsreserve für alte Kohlekraftwerke. Das hieß: Nur wenige Kraftwerke werden mit langen Übergangszeiten abgeschaltet. Es fehlte ein CO2-Preis. Er sorgt dafür, dass es teurer wird, CO2 zu emittieren. Mit einem solchen CO2-Mindestpreis wäre die Kohle schrittweise aus dem Markt gedrängt worden.
Auf den Europäischen Emissionshandel war kein Verlass, denn er funktionierte nicht. Es waren zu viele Zertifikate im Markt. Der Preis war mit vier bis acht Euro je Zertifikat angesetzt – und damit zu gering, um überhaupt eine Steuerungswirkung am Strommarkt zu entfalten. Und die Zwei-Prozent-Quote zur energetischen Sanierung von Gebäuden griff nicht. Sie war eine politische Vorgabe, die nicht umgesetzt wurde. Spätestens damals war klar: Wenn es so weitergeht, dann wird die 2020-Bilanz ein Desaster.
Sprung ins Jahr 2017: Im Herbst wies der Think Tank Agora Energiewende darauf hin, dass 2020 nach dem derzeitigen Stand nur 30 Prozent statt der angepeilten 40 Prozent Emissionsreduktion erreicht werden. Da wäre „nicht ein bisschen daneben, das wäre eine krachende Verfehlung des Klimaziels für 2020“, teilte Patrick Graichen damals in einer Pressemitteilung mit. Wenige Wochen später legte auch Bundesumweltministerin Hendricks die Karten auf den Tisch. „Wir werden die Klimaziele 2020 dramatischer verfehlen als bisher angenommen“, erklärte sie der Hauptstadtpresse. Das Öko-Institut hatte errechnet, dass Deutschland seine Emissionen bis 2020 im besten Falle um nur 32,5 Prozent, im schlimmsten Falle um lediglich 31,7 Prozent senken kann. Stärker als angenommen hätten die Emissionen aus der Braun- und Steinkohleverstromung zu Buche geschlagen. Und der Verkehr habe nicht geliefert. Darauf habe sie immer wieder hingewiesen, sagte Hendricks. Zu der verfehlten Einschätzung der „Klimalücke“ tragen aber auch andere Faktoren bei: Fehlannahmen über das Wirtschaftswachstum gehören hierzu ebenso wie verfehlte Annahmen über das Bevölkerungswachstum. Die Veröffentlichung der Studienergebnisse hatte Hendricks wohl strategisch gewählt. In der nächsten Bundesregierung wird eine neue Person ihr Amt bekleiden. Dieser gibt sie nun die ehrlichen Zahlen an die Hand.
Seit zehn Jahren ist also gut absehbar, dass die Klimaziele 2020 mit den beschlossenen Maßnahmen nicht erreicht werden. Fragt man die Szene der deutschen Klimaexperten danach, welchen Anteil Hendricks daran hatten, heißt es geschlossen: Mit Gabriel als Wirtschaftsminister und roten Energieministern in den Braunkohle-Bundesländern hatte Umweltministerin Hendricks in der eigenen Partei keinen Rückhalt für ihre Ambitionen beim Klimaschutz. Doch eigentlich, und das ist aus der Klimaszene auch zu hören, sei es stets die Kanzlerin gewesen, die sich jedes Mal dann nicht hinter die Minister gestellt habe, als es notwendig gewesen wäre. So habe sie sich beispielsweise auch nicht für die „Klimaabgabe“ bei Braunkohlekraftwerken stark gemacht. „Und auch als es auf EU-Ebene um eine Verschärfung der CO2-Grenzwerte für Pkw ging, hat Merkel interveniert", erinnert sich Christoph Bals, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Germanwatch.
Was macht Jamaika mit den Klimazielen?
Dabei präsentiert Merkel sich auf internationaler Bühne stets als Kämpferin gegen die Erderwärmung. Immer wieder spricht sie sich bei Klimadialogen oder Klimagipfeln für eine Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis Mitte des Jahrhunderts aus. Zu Hause fehlt es ihr an der Konsequenz, der Industrie notwendige Rahmen zu setzen. Nur so wären die Ziele ernsthaft einzuhalten. „Im Ausland wird diese Ambivalenz zunehmend kritisch gesehen“, so die Einschätzung von Bals. Deutschland hat längst an Glaubwürdigkeit beim Klimaschutz verloren.
Die Klimaziele 2020 sind auch bei den jetzigen Sondierungsgesprächen über eine mögliche Jamaika-Koalition ein großer Knackpunkt. Während Union und FDP bereit scheinen, sie aufzugeben, fordern die Grünen, an ihnen festzuhalten. Bleibt die große Frage: Können die Ziele überhaupt noch erreicht werden? Oder reichen selbst radikale Maßnahmen jetzt nicht mehr? Die Agora Energiewende hält es für möglich.
Notwendig wäre ein Sofortprogramm mit den folgenden Maßnahmen: Das Abschalten der dreckigsten Kohlekraftwerke gefolgt vom einem geordneten Kohleausstieg. Eine Million alte Heizungskessel austauschen, eine Million E-Autos doch noch auf die Straße bringen und eine deutlich gesteigerte Ausbaugeschwindigkeit bei den erneuerbaren Energien.