Protest der Jugend: Ein erwachsenes Land braucht Streit und Kompromiss
Vereinfachung und Polarisierung bestimmen heute den Diskurs. Das liegt nicht an der Jugend. Die Erwachsenen müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Ein Kommentar.
Parentifizierung wird in der Familientherapie die Umkehr der sozialen Rollen von Eltern und Kindern genannt. Gemeint ist eine Störung der Generationengrenze, die derzeit weltweit zu beobachten ist: Während Jugendliche als vermeintliche Erzieher der Mächtigen auf die Straße gehen, üben sich viele der angesprochenen Politiker in infantiler Realitätsverweigerung. Gleichzeitig gewinnen Ideologen Wahlen, die außer einem diffusen Dagegensein, der Provokation und der Sabotage wenig anzubieten haben.
Auch die AfD gab unumwunden zu, „gut von ihrem Ruf als Tabubrecherin und Protestpartei“ zu leben. In der Folge bestimmen Vereinfachung, Lügen und Polarisierung auf Kindergartenniveau den Diskurs. In dieser Woche fragte „Die Zeit“ auf ihrer Titelseite: „Wann sind wir erwachsen?“ Wenige Tage zuvor beklagte der Kulturphilosoph Robert Harrison in der „Neuen Zürcher Zeitung“ eine „tiefgreifende Infantilisierung“ der Gesellschaft.
Die kindliche Wahrnehmung dreht sich allein ums Ich. Was nicht zur Befindlichkeit passt, wird mit Schreien und Toben quittiert. Im besten Fall bietet die Kindheit einen geschützten familiären Rahmen, in dem zwischen Aufbegehren und Akzeptanz soziales Verhalten erlernt wird. Der junge Mensch beginnt sich der Welt zu öffnen, realisiert, dass er nur in vermittelnder Wechselwirkung mit seiner Umwelt koexistieren kann.
Doch die Geschichte hat bewiesen, dass gewonnene Freiheit nicht leicht zu ertragen ist. Als die Autoritäten des Kaiserreichs zerfielen, waren viele der Autonomie nicht gewachsen – eine der Ursachen für den Triumph des Nationalsozialismus. Der Psychoanalytiker Erich Fromm nennt das „Die Furcht vor der Freiheit“.
Auch in der dynamischen, globalisierten Welt von heute suchen Menschen nach Orientierung. Es scheint dabei wieder attraktiv zu sein, sich blind in (nationale) Kollektive einzuordnen und Verantwortung abzugeben. Egoistische Selbstbespiegelung ersetzt Aushandlungsprozesse. Im Reden von „denen da oben“ und „dem kleine Mann“ ganz unten schwingt etwas von der kindlichen Ohnmacht den Eltern gegenüber mit.
Beim Erwachsensein geht es um Mündigkeit
Erwachsensein misst sich nicht am Grad des Bartwuchses oder dem Erwerb des Führerscheins. Vielmehr geht es, um den an dieser Stelle nahezu unvermeidlichen Kant zu bemühen, um Mündigkeit: das Vermögen zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Da die Errungenschaften aus Jahrtausenden menschlicher Zivilisation nicht genetisch weitergegeben werden, bleibt Erwachsenwerden und -sein ein Produkt von Erziehung. Mündigkeit kann nur als und in Gesellschaft realisiert werden. Das berührt auch auch jene Bereiche, beispielsweise das Bildungssystem, den Arbeitsalltag, in denen permanent Anpassungsbereitschaft abverlangt – und damit Unsicherheit erzeugt – wird.
Eine „erwachsene“ Vorstellung von Gesellschaft ist die von der Koexistenz unterschiedlicher Vorstellungen als wesentliches Merkmal der Demokratie. Ebenso wie eine Debattenkultur, in der Kompromissbereitschaft herrscht und Fehler und Niederlagen konstruktiv genutzt werden. In der Widersprüche ausgehalten werden, statt dem Drang einer kindlichen Vereindeutlichung der Welt nachzugeben. Kurz: Verantwortung zu übernehmen für sich und sein Umfeld. Das ist eine mühsame und nie endende Aufgabe. Aber es hat auch nie jemand gesagt, dass Erwachsenwerden einfach ist.
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