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Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow (rechts) begrüßt seine Tochter. Der ukrainische Präsident Selenski (im dunklen Anzug) hatte die Freilassung ausgehandelt.
© imago images / ITAR-TASS

Ukraine und Russland tauschen Gefangene aus: Ein erster Schritt auf dem Weg zum Frieden?

Die Ukraine und Russland haben erstmals seit langem Gefangene ausgetauscht. Welche Bedeutung die Aktion für den Friedensprozess hat - eine Analyse.

Die Menschen, die am Samstag auf den Kiewer Flughafen gekommen waren, hatten auf diesen Moment lange gewartet, manche von ihnen sogar mehr als fünf Jahre.

Alina war zwölf, als ihr Vater Oleg Senzow auf der Krim festgenommen und nach Russland verschleppt worden war. Der bekannte Filmregisseur wurde in einem international kritisierten Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt und in ein Straflager am Polarkreis gebracht.

Am Samstag konnte Senzow seine heute 17-jährige Tochter wieder in die Arme schließen. Er war im Rahmen eines Gefangenenaustausches zwischen der Ukraine und Russland freigekommen. Die Aktion gilt als wichtiger Schritt im seit Jahren stagnierenden Friedensprozess für die Ostukraine.

Für wen ist der Austausch ein Erfolg?

In langen Verhandlungen verständigten sich die Ukraine und Russland darauf, jeweils 35 Gefangene freizulassen. Doch nur auf den ersten Blick sieht dies nach einer ausgeglichenen Vereinbarung aus. Denn Russland hätte die 24 ukrainischen Seeleute, die nun im Rahmen des Gefangenenaustausches in ihre Heimat zurückkehren konnten, ohnehin freilassen müssen.

Die russische Küstenwache hatte im November 2018 drei ukrainische Schiffe vor der von Moskau annektierten Halbinsel Krim aufgebracht und die Besatzung festgenommen. Der Internationale Seegerichtshof in Hamburg hatte im Mai die sofortige Freilassung der Seeleute und die Rückgabe der von Russland beschlagnahmten Schiffe angeordnet. Dass die Ukraine trotzdem einwilligte, im Gegenzug 24 russische Gefangene freizulassen, war ein Zugeständnis der neuen Führung in Kiew um Präsident Wolodymyr Selenski, der im Wahlkampf versprochen hatte, die Matrosen und die anderen Gefangenen nach Hause zu holen.

Dieses Versprechen konnte Selenski am Wochenende nun wahrmachen – das ist innenpolitisch durchaus ein Erfolg für den neuen Staatschef.

Um den Austausch nicht in letzter Minute scheitern zu lassen, gab die Ukraine allerdings noch in einem wichtigen Punkt nach: Russland forderte die Überstellung des ukrainischen Separatisten Wolodymyr Zemach, der an den Ereignissen rund um den Abschuss der Passagiermaschine MH17 über der Ukraine beteiligt gewesen sein soll.

Erst als Zemach am Donnerstag auf freien Fuß gesetzt wurde, gab der russische Präsident Wladimir Putin grünes Licht für den Gefangenenaustausch. Damit hat Russland der Ukraine wichtige Zugeständnisse abgerungen, ohne selbst entsprechende Kompromisse zu machen.

Welche Auswirkungen hat die Aktion für die Aufklärung im Fall MH17?

Dass der Kreml die Überstellung von Zemach offenbar zur Bedingung für diesen Austausch machte, ist für sich genommen bemerkenswert. Denn Zemach ist nicht einmal russischer Staatsbürger. Eigentlich hatte Moskau also gar keinen Grund, seine Freilassung zu verlangen und ihn nach Russland zu holen. An seiner Stelle hätte der Kreml einen Russen aus ukrainischer Haft befreien können.

Zemach hatte im Donbass auf der Seite der Separatisten und ihrer russischen Unterstützer gegen die ukrainische Armee gekämpft. Er behauptete später, in der Luftabwehr tätig gewesen zu sein und dabei geholfen zu haben, das Buk-Raketensystem nach dem Abschuss von MH17 zu verstecken. Bei dem Raketenangriff auf die Passagiermaschine 2014 waren alle 298 Menschen an Bord getötet worden. Im März 2020 soll in den Niederlanden ein Prozess gegen die mutmaßlich Verantwortlichen beginnen, wegen Mordes angeklagt sind drei Russen und ein Ukrainer.

Nach den Vorstellungen der niederländischen Ermittler wäre Zemach ein wichtiger Zeuge für dieses Verfahren gewesen. Der Leiter des Ermittlungsteams wies den ukrainischen Generalstaatsanwalt zudem darauf hin, dass Zemach nicht nur Zeuge, sondern selbst Verdächtiger ist. Auch Abgeordnete des Europäischen Parlaments wandten sich gegen eine Überstellung Zemachs nach Russland.

Dennoch entschied sich die ukrainische Führung dafür, der russischen Forderung nachzukommen. Allerdings erhielten niederländische Ermittler offenbar vor dem Gefangenenaustausch noch die Möglichkeit, Zemach zu befragen.

Das Buk-Raketensystem soll von einer Einheit der russischen Armee aus Kursk in die Ostukraine gebracht worden sein. Allein die Tatsache, dass für den Kreml die Befreiung Zemachs so wichtig war, verstärkt den Verdacht einer direkten russischen Tatbeteiligung.

Steigen jetzt die Chancen auf Frieden in der Ostukraine?   

„Wir sind den ersten Schritt gegangen“, sagte Selenski bei der Ankunft der 35 freigelassenen Ukrainer in Kiew. „Wir müssen alle Schritte gehen, um diesen schrecklichen Krieg zu beenden.“ In dem Krieg in der Ostukraine, der 2014 begann, sind mehr als 13.000 Menschen getötet worden. Die Minsker Vereinbarungen von 2015, die einen Friedensprozess einleiten sollen, sind bis heute nicht umgesetzt. Selenski sprach auch von der „Rückkehr“ nicht nur der Seeleute, sondern auch „unserer Gebiete“ – gemeint sind die von Separatisten kontrollierten Teile des Donbass sowie die Krim.

Bereits mit dem Amtsantritt Selenskis verbanden Diplomaten die Hoffnung darauf, dass es nach Jahren des Stillstands nun endlich Bewegung im Friedensprozess geben könnte. Erstmals seit drei Jahren soll es wieder ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs geben. Nach Angaben aus Diplomatenkreisen könnte das Treffen Ende September oder Anfang Oktober in Paris stattfinden. Ziel sei es, dabei „echte Fortschritte“ im Ukraine-Konflikt zu erreichen. Am Sonntag telefonierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron deshalb mit Putin.

Der Gefangenenaustausch hat gezeigt, dass Selenski tatsächlich zu weitreichenden Zugeständnissen bereit ist – das wird einerseits als Chance wahrgenommen, stößt aber auch innerhalb der Ukraine auf Kritik. Ob es jetzt tatsächlich Hoffnung auf ein Ende des Krieges geben kann, wird aber ohnehin nicht in Kiew entschieden, sondern in Moskau. Noch ist völlig unklar, ob und unter welchen Bedingungen Russland bereit ist, diesen Krieg zu beenden und russische Kämpfer und Waffen abzuziehen.

Wie erlebten Ukrainer und Russen den Gefangenenaustausch?

Die Bilder von der Ankunft wurden in Kiew live übertragen. Präsident Selenski empfing die Rückkehrer schon an der Gangway des Flugzeugs. Selenski schüttelte Hände, wechselte mit jedem ein paar Worte, viele umarmten ihn.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski empfing die ehemaligen Gefangenen auf dem Rollfeld. Viele umarmten ihn.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski empfing die ehemaligen Gefangenen auf dem Rollfeld. Viele umarmten ihn.
© Reuters

Auf dem Rollfeld warteten Angehörige, Kinder warfen sich ihren Vätern in die Arme, irgendwann liefen die meisten dem Flugzeug entgegen. Am Ende war dort kaum noch Platz für Selenski. Eine Mutter ging auf ihn zu und küsste den Präsidenten auf beide Wangen. Diese Art der Nahbarkeit ist keineswegs selbstverständlich in einem postsowjetischen Land. Die Ankunft der ehemaligen Gefangenen ist in der Ukraine ein nationales Ereignis, ihre Namen und Geschichten sind im ganzen Land bekannt, das Leid der Angehörigen war immer wieder Thema in den Medien.

Zur selben Zeit hatten auch russische Mütter um ihre in der Ukraine inhaftierten Söhne gebangt, doch in den russischen Medien kamen diese Schicksale nicht vor. Denn offiziell streitet der Kreml noch immer ab, mit diesem Krieg irgendetwas zu tun zu haben. Als die ehemaligen russischen Gefangenen in Moskau ankamen, wurden sie zunächst weder von Angehörigen noch von Vertretern des Staates begrüßt. Dass Präsident Putin sich selbst auf das Rollfeld stellen und jeden begrüßen würde, ist ohnehin kaum denkbar gewesen.

Politisch mag Putin seinem ukrainischen Amtskollegen Zugeständnisse abgerungen haben. Doch Selenski punktet an diesem Tag mit der Macht der Bilder, die auf Menschlichkeit setzen. Und diese Bilder wirken möglicherweise auch in Russland.

Claudia von Salzen

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