Gefangene der Politik: Verwirrung um einen Gefangenaustausch zwischen der Ukraine und Russland
Seit fünf Jahren herrscht Krieg in der Ostukraine. Jetzt soll ein Signal der Hoffnung gesetzt werden. Doch das Misstrauen auf beiden Seiten ist groß.
Rasch verbreiteten sich in der Nacht zum Freitag die Gerüchte. In Kiew und Moskau seien Buskonvois unter strenger Bewachung zu den Flughäfen unterwegs. Aus der russischen Hauptstadt sei bereits ein Flugzeug mit 28 Ukrainern abgeflogen, an Bord auch die von Russland in der Straße von Kertsch im November 2018 gefangen genommenen Seeleute und der ukrainische Regisseur Oleg Senzow. Für dessen Freilassung aus russischer Lagerhaft hatten sich Künstler und Politiker aus aller Welt viele Monate lang vergeblich eingesetzt.
Seit fast zwei Monaten ist bekannt, dass Russland und die Ukraine über den Austausch von Gefangenen verhandeln. Immer wieder wurden Termine genannt und Details an die Journalisten durchgesteckt, dann wieder zurückgezogen. Nun sollte am Freitag der Prozess also begonnen haben. Es wäre das erste Signal dafür, dass sich die Ukraine und Russland nach der Annexion der Krim 2014 und nach fünf Jahren Krieg in der Ostukraine um eine Annäherung bemühen.
Doch dann beendete am Freitagvormittag eine Sprecherin des ukrainischen Geheimdienstes vorerst die Hoffnungen. „Wir haben nie einen Termin für den Austausch genannt. Heute wird er sicher nicht stattfinden.“ Gleichzeitig jedoch erweckte sie den Eindruck, es gehe nur noch um Formalitäten. Alles verlaufe „nach Plan“, sagte sie. Den ganzen Freitag jedoch kursierten in ukrainischen wie in russischen Online-Medien Spekulationen, der Austausch habe ungeachtet des Dementis insgeheim doch schon stattgefunden. Das Informationschaos zeigt, wie vorsichtig man in dem russisch-ukrainischen Konflikt mit Optimismus sein muss. Auf beiden Seiten sitzt das Misstrauen abgrundtief.
Der Gefangenenaustausch war im Juli während des ersten Telefongesprächs zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russland, Wolodymyr Selenski und Wladimir Putin, diskutiert worden. Die Gerüchte, dass er bevorstehe, verdichteten sich dann in dieser Woche, als der ukrainisch-russische Journalist Kirill Wyschinski in Kiew aus der Haft entlassen wurde. Der Ukraine-Chef der russischen Desinformationsagentur „Ria Novosti“, der die Staatsbürgerschaft beider Länder besitzt, war wegen Landesverrats zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Wenig später sickerte dann durch, Senzow sei in ein Moskauer Gefängnis verlegt worden. Er war zu 20 Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt worden, weil er sich auf der Halbinsel Krim nach der Annexion geweigert hatte, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Zudem wurde er beschuldigt, Feuer an die Tür des Büros der Putin-Partei „Einiges Russland“ in Simferopol gelegt und die Sprengung eines Lenin-Denkmals geplant zu haben. Daraus machte die Staatsanwaltschaft eine Anklage wegen „Terrorismus“. Für Menschenrechtsorganisationen gilt Senzow als politischer Gefangener.
Neben Wyschinski und Senzow sind die 24 Angehörigen der ukrainischen Marine die Schlüsselfiguren dieses Deals. Russische Grenztruppen hatten ihre Schiffe vor knapp einem Jahr aufgebracht, als sie versuchten, die von Russland beanspruchte Straße von Kertsch zu passieren. Der Internationale Seegerichtshof urteilte im Mai, das russische Vorgehen sei rechtswidrig, die Seeleute seien unverzüglich freizulassen. Moskau ignorierte diese Entscheidung.
Erst ein einziges Mal haben Russland und die Ukraine bisher Gefangene ausgetauscht. Im Mai 2016 war die ukrainische Luftwaffen-Pilotin Nadeshda Sawtschen- ko aus russischer Kriegsgefangenschaft freigekommen. Zwei russische Soldaten, die in der Ostukraine gekämpft hatten, konnten dafür in ihre Heimat zurückkehren. Das russisch-ukrainische Verhältnis verbesserte sich danach nicht. Saw- tschenko wurde nach ihrer Rückkehr in die Heimat zunächst heroisiert, sie zog ins Parlament ein, wurde zeitweise sogar als Präsidentschaftskandidatin gehandelt. Wenig später aber wandelte sich die Heldin in den Augen der Öffentlichkeit nach einigen wirren Äußerungen über den Krieg in eine „Agentin Moskaus“. Zeitweise saß sie sogar im Gefängnis. Von den beiden russischen Soldaten war nie wieder etwas zu hören. Auf das ukrainisch-russische Verhältnis hatte dieser Austausch keinerlei Auswirkungen.
Diesmal könnte tatsächlich ein positiver Impuls entstehen. Der ukrainische Präsident Selenski hat die Wahl mit dem Versprechen gewonnen, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Daran wird er bereits gemessen, obwohl er erst seit 100 Tagen im Amt ist. Auch für Russland sei eine Entspannung der Lage vorteilhaft, schrieb die keineswegs Kreml-ferne Online-Zeitung „Gazeta.ru“ kürzlich. Die westlichen Sanktionen hätten die Wirtschaft „sichtbar gebremst“ und „zu den größten Spannungen seit dem Zerfall der UdSSR geführt“, heißt es in dem Artikel. Zudem ziehe die „endlose Benutzung des Ukraine-Themas“ bei der Bevölkerung nicht mehr. Gleichzeitig aber eröffne sich für Moskau gerade eine Chance für die Erneuerung einer Partnerschaft mit dem Westen. Der Gefangenenaustausch sei dafür eine der Voraussetzungen, ist „Gazeta.ru“ überzeugt.