Corona-Demo in Berlin: Ein buntbrauner Mix aus Hass und Happening
„Liebe" steht auf der Stirn einer Protestlerin, an den Ohranhängern baumelt „Impfpflicht Nein Danke". Was hat es mit dieser grellen Protestkultur auf sich?
Bunt zu sein galt lange als Markenzeichen der Demonstrationen für demokratische Vielfalt und Multikultur. Als farbenfroher Kontrast zu dumpf-braunen Aufmärschen.
Das gilt nun nicht mehr. Die Demonstration am Sonnabend war buntbraun, ein Mix aus Hass und Happening. Ein Blick auf die vielen Zeichen, Symbole und Parolen zeigt, wie eine neue, grelle Protestkultur in Deutschland Schranken und Schmerzgrenzen einreißt.
Friedrichstraße, an der Einmündung zur Oranienburger Straße. Hinter der Absperrung der Polizei steht eine Frau, auf ihre Stirn hat sie sich das Wort „Liebe“ gemalt. Weniger lieb wirkt, was an ihren Ohren baumelt. Auf länglichem Pappgehänge prangt rechts „Impfpflicht Nein Danke“ und links „Gib Gates keine Chance“.
Die Frau gehört offenkundig zum Milieu der Impfgegner und Verschwörungstheoretiker, die dem Microsoft-Gründer Bill Gates unterstellen, er wolle mit weltweiten Impfungen die Menschheit versklaven. Erregt redet die Frau auf Polizisten ein. Die Beamten, geschützt durch eine Mundnasenmaske vor feuchter Aussprache, hören mit stählerner Geduld zu.
Die Frau gibt dann auf und dreht sich mit wehenden Ohranhängern weg. Nicht weit weg trägt ein Mann ein orangefarbenes Shirt. Es wirkt wie ein Steckbrief: Bill Gates ist abgebildet, darunter steht „Wanted for Crime against Humanity“.
Ein Demonstrant Mitte 40 steht mit seinem Skateboard auf der Oranienburger Seite an der Absperrung. Ein Skater in seinem Alter ist eher selten, seine Ansichten sind es an diesem Sonnabend nicht. Der Mann lässt sein T-Shirt für sich sprechen.
Merkel wird mit braunen Völkermördern auf eine Stufe gestellt
Rote Farbe, in der Mitte eine weiße Scheibe. Erinnert an eine Hakenkreuzfahne, doch das Symbol im Kreis ist Merkels Hand-Raute in schwarz. Dass die Symbolik die Kanzlerin als Wiedergängerin der NS-Diktatur diffamieren soll, zeigt auch der Schriftzug: „Merkel geh“, in Frakturschrift wie einst bei den Nazis üblich.
Die mutmaßliche Partnerin des Alt-Skaters zeigt auf ihrem T-Shirt einen Judenstern mit der Aufschrift „Ungeimpft“. Von den Demonstranten in der Nähe, die wie normale Bürger wirken, empört sich niemand darüber, dass der Mord an sechs Millionen Juden verharmlost und Angela Merkel mit den braunen Völkermördern auf eine Stufe gestellt wird.
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Der Versuch, die Bundesregierung als Nazi-Diktatur zu delegitimieren, scheint bei vielen Demonstranten Konsens zu sein. Ein Mann zeigt ein Schild mit der Aufschrift „Verbrecher Hitler ließ Deutschland untergehen. Merkel lässt Deutschland untergehen“. Erstaunlich gelassen reagieren die Neonazis in der Menge. Drei junge Kerle, auf den schwarzen T-Shirts steht „Division Erzgebirge“, ignorieren, dass ihr Idol ein Verbrecher genannt wird. Wichtiger ist offenkundig, von der Masse nicht als unerwünscht ausgegrenzt zu werden. Rechtsextremisten sind Mainstream auf der Friedrichstraße.
Das scheint kein rein deutsches Phänomen zu sein. Im März 2019 war bei einem Aufzug der Gelbwesten in Paris zu beobachten, dass schwarz gekleidete Nationalisten, die Trikolore schwenkend, Seite an Seite mit Linken, Wutbürgern und Freaks mit Horrormasken liefen. Und auch der Versuch, die Regierung als Nazi-Regime zu dämonisieren, war unübersehbar. Auf Gelbwesten prangten Parolen wie „Sieg Heil Macron“, der Präsident wurde auch mit Hitlerbärtchen abgebildet. Die diffuse Wut auf die Herrschenden kannte in Paris wie jetzt in Berlin keine Grenzen, weder ideologisch noch in der Protestkultur.
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In der Friedrichstraße, später noch verstärkt Unter den Linden vor der russischen Botschaft, wedeln Rechte wie auch scheinbar szeneferne Bürger mit schwarz-weiß-roten Fahnen. Die Farben des Kaiserreichs, von den Nazis in den ersten Jahren ihres Regimes „rehabilitiert“, werden hip als Protest-Utensil.
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An der Weidendammer Brücke hat sich ein leger wirkender Familienvater ein schwarz-weiß-rotes Band um seinen Strohhut gebunden. Der Mann spielt mit seinem Kind, das lachend über die Fahrbahn läuft. Wenige Meter entfernt steht ein junger Rechtsextremist und hält seine schwarz-weiß-rote Fahne in den Wind. Auf den Farben steht in altdeutscher Schrift „Treue um Treue“ und „Deutschland“. Dazwischen ein eisernes Kreuz.
Wo alle Grenzen fallen, ist auch das weltweite Motiv der Kernkraftgegner, die lachende rote Sonne mit dem Slogan „Atomkraft nein danke“, nicht mehr sicher. Ein junger Mann präsentiert auf seinem T-Shirt einen Aufkleber mit dem Spruch „Gesundheitsdiktatur Nein Danke“.
Die Sonne im gelben Kreis ist grün und lacht nicht. Sie blickt, als sei ihr speiübel. Der junge Mann guckt ebenfalls finster. Nichts ist mehr heilig. Von einem Lautsprecherwagen schallt die Stimme einer Frau, sie betet das Vaterunser. Auf Italienisch. Bald ist zu hören, wie die Frau weint, doch sie bringt das Gebet zu Ende. Die Demonstranten klatschen.
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