Lebensverhältnisse in Deutschland: #Dorfkinder leben am Limit
Julia Klöckner will der Landbevölkerung mit einer Kampagne Mut zusprechen. Das ist zynisch, denn es kehrt die Verantwortlichkeiten um. Ein Kommentar.
Julia Klöckner ist ein Dorfkind. Das muss man dieser Tage wissen, denn die Bundeslandwirtschaftsministerin hat eine Kampagne ins Leben gerufen, die unter dem Hashtag „Dorfkinder“ das Leben im ländlichen Raum preist: „#Dorfkinder haben den Dreh raus“, „#Dorfkinder sind zur Stelle, wenn man sie braucht“, „#Dorfkinder bringen neues Leben in alte Mauern“. Auf den Fotos zu diesen Slogans sind glückliche Menschen vor blühenden Landschaften abgebildet.
Julia Klöckner ist in Guldental in Rheinlandpfalz aufgewachsen. Wer kein Auto hat und Guldental nach 19.30 Uhr verlassen will, hat ein Problem. Denn dann fährt kein Bus mehr. Julia Klöckner betrifft das heute nicht mehr. Aber wer, anders als die Ministerin, auf dem Land geblieben ist, wird ihre Kampagne als Hohn empfinden. Denn die prekäre ÖPNV-Situation in Guldental ist im bundesweiten Vergleich sogar noch luxuriös.
Die Qualität der Lebensverhältnisse in Deutschland klafft zwischen Stadt und Land immer dramatischer auseinander. Zwölf Millionen Menschen leben in Deutschland in Ortschaften unter 5000 Einwohnern. Der „Teilhabeatlas“ des Berlin-Instituts fällt ein verheerendes Urteil: Die Wege des alltäglichen Lebens werden auf dem Land immer weiter, weil Arztpraxen und Supermärkte schließen, weil Schulen und Kindergärten nur vier Orte weiter erreichbar sind. Bahnstrecken und Busverbindungen, die einen dort hinbringen können, gibt es aber auch immer weniger und in einigen Landstrichen gibt es nicht einmal eine Netzabdeckung für Telefon und Internet.
Die Verantwortlichkeiten werden umgekehrt
Die Einkommen im ländlichen Raum sind geringer, die Hartz-IV-Quote ist höher, die Steuereinnahmen sinken. Es ist eine Abwärtsspirale, angesichts derer die schönen Fotos eher deplatziert wirken. Im Netz entlädt sich längst der Frust über Klöckner: „#Dorfkinder hängen mit 13 Jahren besoffen am Spielplatz ab, weil es keine Jugendzentren gibt“, „#Dorfkinder fragen, warum ihr Schwimmbad zugemacht wurde“.
Um die Aufregung zu verstehen, lohnt ein Blick in die Konzepte des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Auf ihrer Website werden Initiativen angepriesen: 260 geförderte Projekte auf dem Land für Kultur, 61 „innovative Projekte“ für Digitales und 151 geförderte Ideen für Mobilität. Und, ganz wichtig, der Kreativwettbewerb: Unser Dorf hat Zukunft. Geht es noch zynischer? Die Politik kehrt die Verantwortlichkeitsverhältnisse einfach um: Ihr habt keinen Arzt? Keine Geschäfte, keinen Bus, keinen Job? Dann lasst euch was einfallen!
Populisten nutzen das Gefühl der Vernachlässigten
Gleichwertige Lebensverhältnisse anzustreben und zu verwirklichen ist aber ureigene Aufgabe einer Regierung und des Gesetzgebers. Jede andere Politik leitet sich daraus ab. Das zeigen die Debatten um Klimaschutz, Migration, Industrie 4.0, Europa – keines der Themen lässt sich voranbringen, solange Teile der Bevölkerung andere, unmittelbare Probleme haben und ganze Regionen abgehängt sind. Die Populisten haben das längst verstanden. Gerade aus dem Gefühl, nicht dazu zu gehören, schlagen sie politischen Profit. Die Erfolge der AfD sprechen für sich, auch wenn das Phänomen nicht auf das Land beschränkt ist. Auch in Städten, vor allem in Ostdeutschland, aber selbst in Berlin, manifestiert sich die Unzufriedenheit in Wahlergebnissen.
Alle Dorfkinder kennen die Fakten, Stadtkinder auch
Umso bemerkenswerter ist, welchen Schluss Julia Klöckner aus den empörten Reaktionen auf ihren Vorstoß zieht: „Unsere Dorfkinder-Kampagne hat heute viel Aufmerksamkeit bekommen“, schreibt sie auf Twitter. „Ich hoffe, die Debatte von heute ist ein Anstoß für uns alle.“ Da aber liegt genau das Problem. Es braucht keine Debatte, sie muss auch nicht mehr angestoßen werden. Alle Fakten liegen auf dem Tisch. Jedes Dorfkind kennt sie, jedes Stadtkind auch. Der demografische Wandel, der für einen Großteil der Probleme verantwortlich ist, lässt sich nicht wegdebattieren. Statt der Bevölkerung Mut zuzusprechen, sollte die Regierung vielleicht lieber eine Strukturpolitik verfolgen, die Mut macht.
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