Landleben im Osten – kein Arzt, kein Bus, kein Netz: Wie es abgehängten Regionen in Deutschland geht
Studie zu Lebensverhältnissen: Das Gefälle zwischen Großstädten und Provinz wird größer. Die Lage in Ostdeutschland ist besonders schlecht.
Zehn Tage vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen befeuert eine Studie die Debatte über die anhaltende Teilung Deutschlands bei den Lebensverhältnissen auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Der am Donnerstag vorgestellte „Teilhabeatlas“ des Berlin-Instituts stuft die meisten Landkreise in Ostdeutschland als „abgehängte Regionen“ ein.
Dort haben die Menschen mit weniger Einkaufsmöglichkeiten, weiteren Wegen zum Arzt, schlechterer Anbindung an den Personennahverkehr oder langsamerem Internet zu kämpfen. Zugleich ist dort die Hartz-IV-Quote und die Zahl der Schulabbrecher höher, die Abwanderung hält an, die Einkommen und die Steuereinnahmen sind geringer. Es drohe eine Abwärtsspirale.
Lediglich einige Städte im Osten, vor allem die Brandenburger Landkreise im Berliner Speckgürtel, haben den Aufstieg geschafft. Potsdam, Dresden und Jena gelten sogar als attraktive Großstädte. Für die Studie wurde untersucht, welche gesellschaftlichen Teilhabechancen die 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte ihren Bewohnern bieten.
Die Studie bestätigt nicht, dass die AfD in den abgehängten Regionen besonders erfolgreich ist. So konnte die AfD bei der Bundestagswahl 2017 im prosperierenden Süden bessere Ergebnisse einfahren als in den benachteiligten Regionen im Westen und Nordwesten. Und die Partei wurde im Osten auch in Regionen gewählt, die durchschnittliche Teilhabechancen bieten – Sachsen sei mitnichten das am stärksten abgehängte Bundesland.
Als abgehängt gelten auch westdeutsche Städte im Ruhrgebiet, im Südwesten von Rheinland-Pfalz, im Saarland sowie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Zugleich zeigt sich eine Spaltung zwischen Süd und Nord: Die Teilhabechancen in Regionen des Südens sind oft besser als in manchem Ballungsraum im Norden – wie etwa Berlin.
Bevölkerungsschwund kaum aufzuhalten
Zugleich warnen die Forscher, dass die Politik den Bevölkerungsschwund in Randregionen kaum aufhalten oder gar umkehren kann. Der Strukturwandel könne auch mit viel Geld nicht gestoppt werden. Die Politik dürfe daher keine unrealistischen Erwartungen wecken, sonst seien Enttäuschungen und weitere Frustrationen programmiert. „Es geht darum, ob sie die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen als Ziel hinterfragen muss“, sagte der Direktor des Berlin-Instituts Reiner Klingholz.
Die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ hat Verfassungsrang. Doch selbst eine Kommission aus Bundesministerien und Ländern habe sich bislang nicht darauf einigen können, was darunter zu verstehen sei, sagte Klingholz. Die Politik solle daher nüchtern vorgehen, nur dort intervenieren, wo dies tatsächlich zu besseren Lebensverhältnissen führt. Für gesellschaftliche Teilhabe müssten „an den jeweiligen regionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen orientierte Lösungen“ gefunden werden.
Nach Ansicht der Wissenschaftler führen ungleichwertige Lebensverhältnisse nicht zwingend zur Frustration in den Regionen. Viele Menschen wüssten um die Realitäten und arrangierten sich, weil sie ihre Heimat schätzten. Die Politik müsse diese Vielfalt akzeptieren und Konzepte für schrumpfende Regionen entwickeln. Dazu gehörte auch mehr Entscheidungs- und Finanzautonomie für Kommunen.
Der parlamentarische Staatssekretär des Bundesinnenministeriums, Stephan Mayer (CSU) räumt die zunehmende Spaltung des Landes ein. Die Ergebnisse der Studie seien „nicht zu beschönigen“, sagte er dem Tagesspiegel. Die Bundesregierung verfolge eine aktive Strukturpolitik. Bei der Umsetzung mit den Ländern und Kommunen gehe es um systematische Förderung strukturschwacher Regionen und zielgerichtete Standortpolitik.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sprach von einem „dramatischen Politikversagen“. Die Überschuldung von Kommunen, Netzabdeckung oder Bahnanbindung müssten konsequent angegangen werden. Die Grünen warnten, der gesellschaftliche Zusammenhalt sei immer mehr bedroht. (mit dpa/AFP)