Attentat in Grafing bei München: „Do-it-yourself-Terror“
In Bayern hat ein Mann vier Menschen mit einem Messer angegriffen - wohl kein Islamist, auch wenn er sich so gab. Was sind die Hintergründe dieser Tat?
Am Bahnhof im oberbayerischen Grafing hat ein 27-jähriger Mann am frühen Dienstagmorgen gegen 4.50 Uhr vier Männer brutal mit einem zehn Zentimeter langen Messer attackiert. Ein 56 Jahre alter Mann starb in der Klinik an den Verletzungen, die der Täter ihm in einer S-Bahn vor der Abfahrt zugefügt hatte. Ein weiteres Opfer attackierte er auf dem Bahnsteig, die anderen beiden auf ihren Fahrrädern. Sie sind 43, 55 und 58 Jahre alt. Einer der Männer schwebte am Dienstagabend in Lebensgefahr.
Was wurde über den Täter ermittelt?
Der Täter, der barfuß war, wurde ohne großen Widerstand zu leisten festgenommen und gestand die Tat. Er soll Paul H. heißen, kommt aus dem hessischen Gießen und ist seit zwei Jahren Sozialhilfeempfänger. Vor zwei Tagen war er in Gießen aufgefallen, weil er – möglicherweise unter Drogen – wirr redete und psychiatrisch behandelt wurde. Über die Zeit vor der Tat haben Ermittler herausgefunden, dass er am späten Vorabend mit dem Zug über Fulda nach München gefahren war. Da er nicht genügend Geld für ein Hotel hatte, verbrachte er einen Teil der Nacht am Hauptbahnhof. Auf Bildern der Überwachungskamera am Bahnhof Grafing taucht er schon um 1.40 Uhr auf. Womöglich war die 13000-Einwohner-Stadt 35 Kilometer östlich von München ein rein zufällig erreichter Ort. Die Grafinger Bürgermeisterin Angelika Obermayr sagte an der Polizeiabsperrung um die Blutspuren schockiert: „Dieses Bild kennen wir so nicht im idyllischen Münchner Umland.“
Welche Rolle spielt Islamismus für die Tat?
Gleich nach der Tat wurde spekuliert, es habe sich um eine islamistisch motivierte Messerattacke gehandelt: Der Täter soll laut Augenzeugen „Allahu akbar“ gerufen haben – „Allah ist der Größte“, sowie „Ihr Ungläubigen müsst sterben“.
Die Polizeiermittlungen deuten aber auf keinen islamistisch-terroristischen Hintergrund hin, erklärte die Polizeivizepräsidentin Petra Sandles. Auch deute nichts darauf hin, dass er durch Lektüre von islamistisch-salafistischen Schriften radikalisiert worden wäre. Die Polizei sieht ihn als Einzeltäter. Bürgermeisterin Obermayr sagte ganz offen: „Ich bin erleichtert, dass es ein deutscher Täter war. Und dass er nicht aus Grafing kommt.“ Der CSU-Landrat Robert Niedergesäß nickt dazu. 120 Flüchtlinge sind in Grafing untergebracht, dezentral in Wohnungen. Probleme? „Keine“, sagt Obermayr.
Wie wird ein „islamistischer Hintergrund“ bei Verbrechen definiert?
Um islamistische Motive eines Täters festzustellen, analysieren Ermittler nicht nur dessen Verhalten während des Verbrechens. Die Wohnung wird nach szenetypischen Utensilien durchsucht, von besonderem Interesse sind die Computer: Oft finden sich dort Dateien mit Bezügen zu einer islamistischen Organisation wie der Terrormiliz IS oder Al Qaida. Das können Äußerungen in sozialen Netzwerken oder abgeschirmten Chatrooms sein, Werbung für eine Gruppierung oder direkte Kontakte per E-Mail oder Telefon.
Gibt es Hinweise, dass ein Täter mit einer militanten Gruppierung in Verbindung steht, ermittelt die Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer inländischen oder ausländischen terroristischen Vereinigung. Erst recht, wenn zu vermuten ist, dass der Täter an einem der Schauplätze des Dschihad war – also beim IS in Syrien und im Irak oder bei Al Qaida im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet.
Welche Rolle spielen Nachahmungstäter? Warum berufen die sich auf den Islam?
Mit jeder Messerattacke nimmt bei den Sicherheitsbehörden die Sorge zu, Nachahmer könnten ähnlich agieren, um ebenfalls Aufmerksamkeit zu erregen. Das gilt auch für andere spektakuläre Taten wie zum Beispiel Brandanschläge. Experten vermuten, dass bei der nicht enden wollenden Serie von Zündeleien an Unterkünften von Flüchtlingen auch Täter beteiligt sind, die sich ohne das „Vorbild“ ähnlicher Delikte nicht getraut hätten.
Sicherheitsexperten sehen auch Folgen der Internet-Propaganda des IS – die womöglich auch auf Personen wirkt, die gar nicht islamistisch eingestellt, aber auf Gewalt fixiert sind. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans- Georg Maaßen, hat kürzlich vor solchem „Do-it-yourself-Terror“ gewarnt. Im Online-Magazin „Dabiq“ werden Mordfantasien geschürt mit Sprüchen wie „Vor Allah wenden wir uns gegen jeden Muslim, der die Möglichkeit hat und nicht ergreift, auch nur einen Tropfen Kreuzzügler Blutes zu vergießen – sei es mit einer Bombe, einer Kugel, einem Messer, einem Auto, einem Stein oder auch nur einem Stiefel oder einer Faust“.
Ein Fall, der offenbar dem islamistischen Terror zugeordnet werden muss, ist die Messerattacke der 15-jährigen Safia S. in Hannover. Sie hatte im Februar im Hauptbahnhof einem Bundespolizisten in den Hals gestochen. Die Bundesanwaltschaft übernahm die Ermittlungen, weil das Mädchen in Verdacht steht, per Internet Kontakt zu einem IS-Kämpfer zu halten und die Reise in den syrischen Bürgerkrieg versucht zu haben.
Ein anderer Fall zeigt, dass ein Messerangriff nicht politisch motiviert sein muss – selbst wenn der Täter als Islamist bekannt ist: Im September 2015 stach der frühere Terrorist Rafik Y. in Berlin einer Polizistin in den Hals und wurde dann von einem Beamten erschossen. Obwohl Rafik Y. wegen eines geplanten Anschlags eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hatte, stuften die Behörden die Attacke eher als Tat eines Psychopathen ein, der sich nicht unter Kontrolle hatte.