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EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker.
© FREDERICK FLORIN / AFP

Junckers Rede zur Lage der EU: Diplomatisch - aber ohne Biss

EU-Kommissionschef Juncker wurde in seiner Rede zur Lage der EU der dramatischen Lage der Gemeinschaft nicht gerecht. Ein Kommentar.

Es ist ein jährliches Ritual: Im Herbst tritt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor die Europaabgeordneten und hält eine Rede zur Lage der Europäischen Union. Juncker gab seine aktuelle Erklärung acht Monate vor der Europawahl ab, die zum Gradmesser werden dürften für die Stärke der Populisten auf unserem Kontinent. Der Luxemburger hätte also eine aufrüttelnde Rede halten und gleichzeitig eindringlich vor einem drohenden Zerfall der Europäischen Union warnen können. Doch Juncker nutzte die Chance nicht.

Statt dessen lieferte er eine nüchterne Bestandsaufnahme zum Zustand der Europäischen Union. Zusammengefasst sieht die Situation nach den Worten Junckers so aus: Die Wirtschaft boomt wieder, die Euro-Krise ist vorbei, und Trump stellt die Europäer vor die Herausforderung, künftig in der Welt nicht nur als „global payer“, sondern auch als „global player“ aufzutreten. Und dann ist da noch der Brexit. Beim Austritt der Briten müssen die Europäer sicherstellen, dass der Brexit nicht anderswo auf dem Kontinent Nachahmer findet – und gleichzeitig bürgerfreundliche Lösungen finden.

Salvini würde am liebsten die Gemeinschaft sprengen

Das ist alles richtig. Die Analyse wird aber nicht der Dramatik der Lage gerecht: Noch vor einem Jahr hatte es nach dem Wahlsieg des Pro-Europäers Emmanuel Macron in Frankreich so ausgesehen, als hätten Rechtsextreme und Populisten in Europa ihren Zenit überschritten. Doch dann kamen der Einzug der AfD in den Bundestag, die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich, zuletzt der Erfolg der rechtspopulistischen Schwedendemokraten, aber vor allem die unselige Allianz zwischen der Lega-Partei und der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. Die Lega-Partei verstärkt das Lager der Souveränisten vom Schlage eines Viktor Orban. Wobei es auch unter den Nationalisten Unterschiede gibt: Während Orban innerhalb des EU-Systems einen Rechtsruck bei Europas Konservativen herbeiführen möchte, will der Lega-Politiker Salvini am liebsten die ganze EU sprengen.

Vormarsch der Nationalisten könnte zur Rückentwicklung der EU führen

In dieser Situation hätte es sicher nicht geschadet, wenn Juncker die möglichen langfristigen Folgen eines ausufernden Nationalismus in seiner Rede genauer ausbuchstabiert hätte. Die Gefahr besteht darin, dass sich die EU langfristig wieder zu einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zurückentwickelt, wenn sich das Denken von Politikern wie Orban oder des polnischen PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski überall in der Gemeinschaft durchsetzt. Den Traum, zu einer außenpolitischen Macht zu werden, müsste die EU dann begraben.

Es mag sein, dass Juncker seine Aufgabe nicht darin sieht, die Auseinandersetzung zwischen Pro- und Anti-Europäern, die sich vor der Europawahl schon abzeichnet, noch weiter anzuheizen. Statt dessen möchte er, ähnlich wie Kanzlerin Merkel, Brücken bauen auf einem vor allem zwischen Ost und West zerrissenen Kontinent. Daher beließ es der Kommissionschef, der Ende des kommenden Jahres abtritt, bei einer vage gehaltenen Absage an „kranken Nationalismus“ und einem Plädoyer für einen „aufgeklärten Patriotismus“. EU-Parlamente und Kommissionen kommen und gehen, aber „Europa bleibt“, sagte Juncker. Die Frage ist nur: welches Europa?

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