Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Dieser Mann will Macron das Amt streitig machen
Bislang sah es so aus, als würde Macrons wichtigste Konkurrenz von rechts kommen. Jetzt aber zeichnen sich Chancen für den linken Jean-Luc Mélenchon ab.
Inmitten Zehntausender Demonstranten guckt das lächelnde Gesicht der Schildkröte hervor. Ihr Panzer ist in rosa-orange-lila gestaltet – den Farben der linken Bewegung „Union Populaire“. Langsam, aber stetig bewegt sich das Tier an diesem 20. März vorwärts, auf dem Weg zwischen dem Platz der Bastille und dem Platz der Republik in Paris. Ihr eigentliches Ziel aber sind die Präsidentschaftswahlen.
Der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon hat die Schildkröte zum Symbol für seine Wahlkampagne gemacht. „Vertraut einer Wahl-Schildkröte, die so klug ist wie ich“, hatte er bei einem großen Auftritt im Januar in die Menge gerufen. „Es bringt nichts zu rennen, man muss rechtzeitig starten.“ Drei Wochen vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen scheint möglich, was lange als ausgeschlossen galt: Eine Stichwahl zwischen Amtsinhaber Emmanuel Macron, der weit vorne liegt in den Umfragen, und dem Linken Mélenchon.
Am Sonntag haben Mélenchon und sein Team zur größten Wahlkampfveranstaltung des gesamten bisherigen Wahlkampfs in die französische Hauptstadt geladen. Rund 100.000 sind nach Angaben der Veranstalter gekommen. Die Pariser Polizei hat keine Angaben zu den Teilnehmerzahlen gemacht, auf eine entsprechende Anfrage reagierte sie nicht.
Bei strahlendem Sonnenschein scheinen die Menschen sich nicht nur versammelt zu haben, um für ihren Kandidaten zu werben – sondern auch um zu zeigen, dass die französische Linke noch am Leben ist. Bislang war der Wahlkampf vom rechten und rechtsextremen politischen Feld dominiert.
Wahl als „soziales Referendum“
Eine Brassband, ein französisches Rap-Duo, eine lateinamerikanische Combo – viel Musik wird entlang des Demonstrationszugs gespielt, die Stimmung ist ausgelassen. Der Zug wird angeführt von Mélenchon selbst und mehreren Politikern seiner Partei „France Insoumise“. Später wird der Kandidat bei seiner Rede die Wahl zum „sozialen Referendum“ erklären. „Eine andere Welt ist notwendig, und weil sie notwendig ist, werden wir sie möglich machen.“
Auch Cedric Attias hofft das. Er trägt einen roten Hut, einen roten Schal und ein Shirt, auf dem das ikonische Bild der französischen Revolution, „Die Freiheit führt das Volk“, abgebildet ist. „Das ist keine Demonstration heute“, sagt der 49-jährige Künstler. „Das ist ein Treffen, bei dem es um das Schicksal der Welt geht“. Attias lebt in Paris, kommt aber ursprünglich aus Marseille.
Er will, dass gegen den Klimanotstand gehandelt wird. „Sonst haben wir bald auch in Südfrankreich Brände.“ Mélenchon hat für ihn das überzeugendste Klima-Programm. Aber auch die sozialpolitischen Pläne unterstützt er. Macron habe in dieser Hinsicht das Volk verraten, meint er.
[Im April finden in Frankreich Präsidentschaftswahlen statt. Wer sind die wichtigsten Kandidaten? Und was wollen sie politisch? Lesen Sie hier den Überblick auf Tagesspiegel Plus.]
Auch Mathilda A., 29 Jahre alt und Psychoanalytikerin, nennt Mélenchons Umweltpläne als einen der Gründe, warum sie für ihn wählen wird. Für sie ist außerdem wichtig, dass Mélenchon versprochen hat, nicht weitere Sektoren zu privatisieren – wie etwa den Bildungsbereich.
Sie hat bereits zwei Mal für Mélenchon gewählt – er tritt zum dritten Mal bei den Präsidentschaftswahlen an. „Diesmal gibt es die realistische Hoffnung, dass er es in die Stichwahl schaffen kann“, sagt Mathilda. Auch wenn Mélenchon im zweiten Wahlgang gegen Macron verliere, würde sein Einzug in die Stichwahl einen enormen positiven Einfluss auf die linke Politik innerhalb und außerhalb der Parlamente haben, sagt Mathilda.
Aufstrebende Dynamik
Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 hatte Mélenchon im ersten Wahlgang 19,58 Prozent der Stimmen auf sich versammelt, nur 1,72 Prozentpunkte weniger als Marine Le Pen, die mit Macron in der Stichwahl landete. In den aktuellen Umfragen liegt zwar die rechte Le Pen weiter an Platz zwei hinter Macron, der mit über 30 Prozent weit vorne liegt. Doch Le Pens Werte stagnieren seit Wochen. Éric Zemmour und die konservative Kandidatin Valérie Pécresse verlieren sogar an Zustimmung.
Der einzige Konkurrent Macrons, der eine nennenswerte aufstrebende Dynamik zu verzeichnen hat, ist derzeit Mélenchon. Nach Zahlen des Fernsehsenders France Info, der mehrere Umfragewerte miteinander verrechnet, steht Mélenchon inzwischen mit 12 Prozent an dritter Stelle in den Umfragen hinter Le Pen mit 18 Prozent.
40 Jahre Erfahrung
Er ist damit auch der einzige Kandidat des gesamten linken Spektrums, der eine Chance auf die Stichwahl hat. Das könnte dazu führen, dass auch Anhänger der anderen linken Kandidierenden ihm seine Stimme geben – „vote utile“ nennt sich das im Französischen, eine taktische Wahlentscheidung.
Mélenchon ist eine kontroverse Figur in der französischen Politik, der neben seinen politischen Ideen auch für sein aufbrausendes Gemüt bekannt ist. Von allen Präsidentschaftskandidaten ist er der mit der meisten politischen Erfahrung: Seit 40 Jahren macht er Politik, unter Präsident Jacques Chirac war er von 2000 bis 2002 beigeordneter Minister für berufliche Bildung. Er war Mitglied des Senats, Mitglied des EU-Parlaments, aktuell ist er Abgeordneter des französischen Parlaments.
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Im Falle seiner Wahl werde er den Mindestlohn sofort per Dekret auf 1400 Euro anheben und den Benzinpreis auf 1,40 Euro pro Liter begrenzen, kündigt er bei seiner Rede am Sonntag an, mit der die Demonstration endete. Die Menge vor ihm jubelt, als er das sagt. Und sie buht, als er mehrfach die Pläne Macrons nennt, das Rentenalter auf 65 anheben zu wollen. Mélenchon will es auf 60 herabsenken – bislang liegt das allgemeine Rentenalter in Frankreich bei 62.
Mélenchon will eine neue Verfassung für Frankreich
Eins von Mélenchons wichtigsten Vorhaben ist die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. Die extreme Machtkonzentration, die es in Frankreich gibt, sei gefährlich, sagt er. Der Linke will deswegen neue Grundlagen für die französische Republik – es wäre die sechste – schaffen. „Marsch für die Sechste Republik“, so heißt der Demonstrationszug am Sonntag offiziell.
„Jeder ist persönlich für das Ergebnis verantwortlich“, appelliert Mélenchon bei seiner Rede mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen. „Jede Person hat den Schlüssel zur zweiten Runde.“ Damit will er auch die Unentschiedenen ansprechen und die Nichtwähler. Experten gehen davon aus, dass im April so viele wie noch nie den Präsidentschaftswahlen fernbleiben könnten.
Mélenchon widmet die Wahlkampfveranstaltung dem „Widerstand des ukrainischen Volkes gegen die russische Invasion“ und den „mutigen Russen“, die in ihrem eigenen Land gegen den Krieg und die Diktatur protestieren. Seit dem Beginn des Krieges wurde Mélenchon dafür kritisiert, früher zu Russland- und Putin-freundlich aufgetreten zu sein.
Er selbst streitet das ab und verteidigt seine bündnisfreie Linie und seinen Plan, aus der Nato aussteigen zu wollen. Seine linke Konkurrenz, vor allem Anne Hidalgo von der parti socialiste und der grüne Jadot, gehen Mélenchon derzeit hart an und kritisieren seine Haltung.
Am Ende seine Rede nutzt Mélenchon den Frühlingsanfang als Metapher und wendet sich erneut direkt an die Menge: Am 10. April, dem Tag des ersten Wahlgangs, sei es an ihnen, mit ihrem Wahlzettel den „Frühling des Volkes“ einzuleiten. Drei Wochen liegen noch vor ihnen. Drei Wochen, die die Schildkröte nutzen muss, wenn sie ans Ziel kommen will.