Biden zieht Soldaten aus Afghanistan ab: „Die Zeit ist reif, Amerikas längsten Krieg zu beenden“
US-Präsident Biden zieht das Militär aus Afghanistan ab. Er will sich stärker strategischen Rivalen wie Russland oder China widmen. Oder dem Klimawandel.
Einen symbolischeren Tag hätte Joe Biden nicht wählen können. Ausgerechnet zum 20. Jahrestag von 9/11, am 11. September 2021, soll der letzte US-Soldat aus Afghanistan abgezogen sein.
Der US-Präsident verkündete den neuen Abzugstermin und die damit verbundenen Erwartungen am Mittwochnachmittag offiziell. Anschließend besuchte er den Abschnitt 60 auf dem Arlingtoner Friedhof, um jene Soldatinnen und Soldaten zu ehren, die in amerikanischen Militäreinsätzen der vergangenen Jahre ihr Leben gelassen hatten.
Mit dem konkreten Abzugsdatum, das viereinhalb Monate später liegt, als es Bidens Vorgänger Donald Trump anvisiert hatte, soll nicht nicht nur der längste Kriegseinsatz Amerikas enden, der als Reaktion auf die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon begonnen hatte. Es wird auch eine Prioritätenverschiebung sichtbar: weg von den „endlosen Kriegen“.
Die nationale Sicherheit wird nach Bidens Auffassung aktuell und in Zukunft stärker durch den strategischen Rivalen China, Russland, den Klimawandel und die Corona-Pandemie bedroht. Ein Verweilen am Hindukusch würde demnach Kräfte binden, die für andere Aufgaben gebraucht werden.
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Biden begründet seine Entscheidung damit, man könne nicht weiter auf „ideale Bedingungen“ für einen Abzug warten. Er sei der vierte US-Präsident, der für die Präsenz in Afghanistan Verantwortung trage. „Ich werde diese Verantwortung nicht an einen fünften weitergeben.“
Für Biden gibt es keine militärische Lösung
Nach umfangreichen Beratungen sei er zu dem Schluss gekommen: „Die Zeit ist reif, Amerikas längsten Krieg zu beenden. Die Zeit ist reif, amerikanische Truppen nach Hause zu holen.“ Auch wenn der militärische Einsatz ende, werde die diplomatische und humanitäre Arbeit sowie die Unterstützung der afghanischen Regierung weitergehen. „Wir sind nach Afghanistan wegen des grauenhaften Anschlags vor 20 Jahren gegangen. Das ist keine Begründung dafür, warum wir 2021 noch dort bleiben sollen.“
Biden ist schon länger überzeugt davon, dass es für diesen Krieg, der ursprünglich das Ziel hatte, Al Qaida so zu schwächen, dass sie den USA nicht mehr gefährlich werden können, keine militärische Lösung gibt. Er hat miterlebt, wie drei seiner Vorgänger keinen Ausweg aus diesem Einsatz fanden.
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Als Vizepräsident von Barack Obama sprach er sich zu Beginn von dessen erster Amtszeit genauso vehement wie vergeblich gegen eine Aufstockung der Truppen in dem zentralasiatischen Land aus. Nun, keine drei Monate im Amt, will er die Weichen für den Abzug stellen.
Generalstabschef Milley: Frauenrechte könnten auf "Steinzeitniveau" zurückfallen
Warnungen seiner militärischen Berater, die Taliban seien wieder stärker geworden und könnten bei einem bedingungslosen Abzug das gesamte Land unter ihre Kontrolle bringen, haben ihn nicht umgestimmt. Genauso wenig wie die des Generalsstabschefs Mark Milley, der prophezeit, dass Frauenrechte auf „Steinzeitniveau“ fallen dürften, wenn die Amerikaner abziehen.
Die Argumentation der Regierung lautet: Indem der Abzug der offiziell noch 2500 US-Soldaten schrittweise ab dem 1. Mai beginne, aber mit dem 11. September ein klares Enddatum habe, verringere sich die Gefahr, dass die Taliban eine neue Anschlagswelle starteten.
Die Islamisten hatten damit gedroht, falls sich die USA nicht an die mit Trump geschlossene Vereinbarung hielten. Allerdings haben sie selbst für ihren Teil der Abmachung – ein Ende der Angriffe, den Bruch mit Al Qaida und ernsthafte Gespräche über eine politische Lösung mit der Regierung in Kabul – kaum etwas getan. Zwar haben die Anschläge auf US-Truppen nach Darstellung von Kommandeuren tatsächlich nachgelassen, gleichzeitig wurden aber Angriffe auf afghanische Kräfte verstärkt.
Auch von einem Bruch mit Al Qaida ist wenig zu sehen. Laut einem Geheimdienstbericht über globalen Herausforderungen, der am Dienstag veröffentlicht wurde, sind die Aussichten für ein Friedensabkommen in Afghanistan „gering“. Entziehe die internationale Koalition ihre Unterstützung, werde die Regierung in Kabul große Schwierigkeiten haben, die Taliban zu kontrollieren. Biden hat sich dennoch gegen einen Verbleib entschieden.
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In Washington fielen die Reaktionen gemischt aus. Der republikanische Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell, kritisierte Biden. Ein plötzlicher Abzug sei ein „schwerer Fehler“, der Feind sei noch nicht besiegt. Dagegen erklärte Colin Powell, George W. Bushs Außenminister, als der Krieg begann, die Abzugsentscheidung sei „überfällig“. Amerika habe „alles uns Mögliche getan“, sagte er der „Washington Post“.
Zustimmung wird die Biden-Regierung auch bei einem Großteil ihrer Bevölkerung erhalten – nach 20 Jahren, 2200 getöteten US-Soldaten, 20 000 Verletzten und Kosten von mehr als einer Billion Dollar sind viele Amerikaner kriegsmüde.