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Beate Zschäpe mit ihren Anwälten.
© dpa

Ergebnisse und Ermittlungspannen: Die zähe Aufarbeitung im NSU-Prozess

Seit fünf Wochen läuft der Prozess wegen der Morde der Terror-Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund". Am Montag findet der 14. Verhandlungstag statt. Wie er bisher gelaufen ist, was er zutage gefördert hat, wo er steht - eine Zwischenbilanz.

Vom Jahrhundertprozess war die Rede, und schon vor Beginn war das Medienecho gigantisch. Denn die Rahmenbedingungen des Verfahrens waren heftig umstritten. Nun läuft der NSU-Prozess am Oberlandesgericht München seit fünf Verhandlungswochen. Es gab eine größere Überraschung, es gab Konflikte, auch Leerlauf – aber es geht voran, allerdings mühsam. Der Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats, Manfred Götzl, drückt aufs Tempo, doch schon nach der zähen, neun Verhandlungstage dauernden Befragung des Angeklagten Carsten S. erscheint unvermeidlich, dass dieses Mammutverfahren extrem lange dauern wird. Und auch dann noch werden vermutlich viele Fragen zu den ungeheuerlichen Verbrechen der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ offen bleiben.

Wo steht der NSU-Prozess nach dem 13. Verhandlungstag?

Im Prozess beginnt nun die dritten Phase – am Montag sollen das erste Mal Zeugen gehört werden. Bislang haben nur zwei Angeklagte ausgesagt, zuvor hatten sich Verteidiger und Richter Götzl den für den Start einer großen Hauptverhandlung typischen, rein prozessualen Kleinkrieg geliefert. Die Anwälte von Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben attackierten vom Auftakt am 6. Mai an mit Befangenheitsanträgen, Aussetzungsanträgen und Einstellungsanträgen. Dies war die erste Phase, sie erstreckte sich über vier Verhandlungstage. Götzl und seine Kollegen wiesen alle Anträge ab oder stellten sie zurück, auch mal für längere Zeit. Erst am Donnerstag hat Götzl verkündet, ein Antrag der Verteidiger Zschäpes auf Einstellung des Verfahrens, gestellt Anfang Juni, sei abgelehnt. Es fällt nebenbei auf, dass die Verteidiger der drei weiteren Angeklagten bislang keine Anträge gestellt haben.

Schon in der ersten Phase konnte Götzl allerdings durchsetzen, dass die Bundesanwaltschaft die Anklage vorträgt. Das war am 2. Verhandlungstag. Es dauerte allerdings noch bis zum 5. Prozesstag, dass Phase zwei beginnen konnte: die Einvernahme von Angeklagten.

Zunächst gestand der aus Jena stammende Ex-Neonazi Carsten S. (33), dass er Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Frühjahr 2000 in Chemnitz die Pistole Ceska 83 überbracht hatte. Mit der Waffe erschossen die beiden NSU-Terroristen neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft. Am 7. Prozesstag zog der auch einst in Jena als „Kamerad“ agierende Holger G. (39) nach und verlas eine schriftlich formulierte „Erklärung“, in der er die ihm vorgeworfene Unterstützung der Terrorzelle zugab. Der Angeklagte hatte dem NSU einen Reisepass, einen Führerschein und eine AOK-Versichertenkarte verschafft. Mit den Dokumenten konnten sich die Mitglieder der Terrorzelle tarnen. Und G. berichtete, ebenfalls eine Waffe übergeben zu haben. Wie Carsten S. belastete G. in diesem Punkt auch Ralf Wohlleben als Mittäter.

Dann folgte am 11. Juni, dem 8. Prozesstag, die erste Überraschung. Carsten S. weitete sein Geständnis aus und sprach unter Tränen von einem Anschlag des NSU, der unbekannt war. In Chemnitz hätten ihm Mundlos und Böhnhardt vor der Übergabe der Ceska 83 „spektakulär“ erzählt, in einer Gaststätte in Nürnberg „eine Taschenlampe hingestellt“ zu haben. Carsten S. vermutet eine Bombe. Die Bundesanwaltschaft ließ die Angaben sofort überprüfen. Es stellte sich heraus, dass im Juni 1999 im Lokal eines türkischen Betreibers in Nürnberg ein Sprengsatz explodiert war, der in einer Taschenlampe gesteckt hatte. Ein junger Mitarbeiter erlitt Verbrennungen.

Der Fall „Taschenlampe“ dürfte nicht die letzte Überraschung gewesen sein. Der NSU-Komplex ist so groß und in Teilen so wenig erforscht, dass für kaum einen Prozesstag eine neue Gruselgeschichte auszuschließen ist.

Hat das Verfahren weitere Ermittlungspannen aufgedeckt?

Der Taschenlampen-Anschlag wirft zumindest Fragen nach dem Verhalten der Staatsanwaltschaft Nürnberg auf. Obwohl die Terrorzelle in der Stadt drei Migranten tötete und damit so viele wie nirgendwo sonst, hat die Staatsanwaltschaft es offenkundig nach dem NSU-Schock im November 2011 versäumt, ungeklärte Anschläge mit einem möglichen rassistischen Hintergrund noch einmal zu prüfen und die Fälle der Bundesanwaltschaft zuzuleiten. Hätte Carsten S. nicht im Prozess von der perfiden Taschenlampenbombe berichtet, wäre der Fall noch immer in Akten der Nürnberger Staatsanwaltschaft begraben.

Hat der Prozess neue Erkenntnisse über die Hintergründe der Taten erbracht?

Dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt aus rassistischen Motiven die neun Migranten ermordeten, hat im Prozess bislang niemand in Frage gestellt. Alles weitere bleibt ein Gemisch aus gesicherten polizeilichen Erkenntnissen, aus Schlussfolgerungen der Bundesanwaltschaft und vielen Verdachtsmomenten, die nur schwer zu klären sind. Bei der Frage, warum die Terrorzelle ausgerechnet in Nürnberg drei Menschen umbrachte und offenbar auch noch einen Sprengstoffanschlag verübte, gibt es im Prozess bislang keinen Fortschritt. Carsten S. kann sich angeblich nicht an Verbindungen der Thüringer Szene zu Rechtsextremisten in Nürnberg erinnern.

Es bleibt auch unklar, ob S. nicht noch mehr weiß, als er gestanden hat. So gab er an, Wohlleben habe nach einem gemeinsamen konspirativen Telefonat mit Mundlos und Böhnhardt nach deren Gang in den Untergrund lachend geäußert, „die haben jemanden angeschossen“. Carsten S. will darüber nicht weiter mit Wohlleben gesprochen haben. Diese Version hält die Bundesanwaltschaft für zumindest zweifelhaft. Die Ankläger schließen nicht aus, dass Carsten S. im Jahr 2000 die rechte Szene verließ, weil er mitbekommen hatte, dass Mundlos und Böhnhardt mit der von ihm gelieferten Ceska 83 einen Menschen nicht nur an-, sondern erschossen hatten. Am 9. September 2000 töteten die beiden Neonazis in Nürnberg den türkischen Blumenhändler Enver Simsek. Ebenfalls im September, so erzählte es S. jetzt dem Gericht, habe er die rechte Szene verlassen – weil er dort seine Homosexualität nicht ausleben konnte. Vom Mord an Simsek will er damals nichts erfahren haben, obwohl er, mutmaßlich im Auftrag Wohllebens, den Telefonkontakt zu dem untergetauchten Trio hielt.

Auch Holger G. sagte, er habe von den Verbrechen des NSU nichts gewusst und ahnungslos Freundschaftsdienste geleistet. Fragen zu seinem Geständnis beantwortet er bislang nicht.

Ist Beate Zschäpe eher belastet oder eher entlastet worden?

Ist die Hauptangeklagte Beate Zschäpe im bisherigen Verlauf eher entlastet oder eher belastet worden?

Carsten S. hat Zschäpe möglicherweise punktuell entlastet, Holger G. hingegen hat sie eher belastet. Bei dem Treffen in Chemnitz zur Übergabe der Ceska 83 sagte Carsten S., Mundlos und Böhnhardt hätten mit einem „psscht!“ verhindert, dass die nur kurz anwesende Zschäpe etwas von dem Anschlag mit der Taschenlampe erfuhr. Zschäpes Verteidiger sehen ihre These gestärkt, die Mandantin sei nicht zwangsläufig in die Verbrechen der beiden Uwes eingeweiht gewesen. Carsten S. gab zudem an, Zschäpe sei bei der Übergabe der Waffe in einem Chemnitzer Abbruchhaus nicht dabei gewesen.

Holger G. hat allerdings vorgetragen, Zschäpe habe ihn 2000 oder 2001 in Zwickau vom Bahnhof abgeholt, als er im Auftrag Wohllebens eine Waffe überbrachte. Außerdem sei die AOK-Versichertenkarte, die er einer Bekannten abgekauft haben will, für Zschäpe bestimmt gewesen.

Zschäpe selbst schweigt weiter, wie auch die Mitangeklagten Wohlleben (38) und André E. (33). Einige Medien widmeten sich deshalb intensiv einem Brief der 38-Jährigen an einen Insassen der JVA Bielefeld. Das Schreiben hatte die Anstaltsleitung dem Verfassungsschutz zugeleitet, der reichte es weiter an die Polizei und die an die Bundesanwaltschaft. Der Brief ist allerdings vornehmlich Futter für Voyeure. Zschäpe hat sich offenbar in den aus der rechten Szene Dortmunds stammenden Robin S. verliebt. Auf den 26 Seiten, eng beschrieben, plaudert Zschäpe mal zärtlich, mal ironisch und betont selbstbewusst drauflos, bis hin zu intimen Phantasien. Zu den Tatvorwürfen äußert sie sich nicht – die Hauptangeklagte weiß genau, dass ihre Briefe von den Sicherheitsbehörden gelesen werden.

Dem Schreiben ist allerdings auch keine Andeutung von Reue zu entnehmen. Zschäpe lobt Robin S. dafür, dass er den Kontakt überhaupt wagt. „Mit mir und den ganzen Rattenschwanz der mir anhängt in Verbindung gebracht zu werden, ist nicht förderlich mit Blick auf eine positive Beurteilung“, schreibt sie. Robin S. verbüßt eine siebenjährige Haftstrafe wegen bewaffneten Raubes und befindet sich mittlerweile im offenen Vollzug.

Wie die Verbindung zustande kam, ist unklar. Möglicherweise kennt Zschäpe den Briefpartner schon länger. Bei diesem Verdacht zwingt sich die Frage auf, ob es einen Bezug geben könnte zum NSU-Attentat in Dortmund. Im April 2006 erschossen hier Mundlos und Böhnhardt den deutschtürkischen Kiosk-Betreiber Mehmet Kubasik.

Interessant dürfte der Briefinhalt vor allem für Henning Saß sein. Der renommierte Psychiater bekam vom Oberlandesgericht den Auftrag, Zschäpe an jedem Verhandlungstag zu beobachten. Und sollte der Brief im Prozess verlesen werden, wie es einige Anwälte der Nebenkläger anstreben, ist ein spannender Moment zu erwarten. Hält Zschäpe ihr Schweigen durch, auch wenn intime Details öffentlich ausgebreitet werden? An den bisherigen Verhandlungstagen wirkte sie öfter genervt, kaute an den Fingernägeln und redete energisch auf ihre Verteidiger ein. Am Morgen des neunten Prozesstages, der Brief wurde erstmals in den Medien erwähnt, fühlte sich Zschäpe unpässlich. Die Verhandlung startete 80 Minuten später als geplant.

Wie meistert der Vorsitzende Richter den Verhandlungsmarathon?

Götzl schwingt die Peitsche. In der ersten Phase des Prozesses hat er die Verteidiger Zschäpes und Wohllebens traktiert, inzwischen bekommen auch Anwälte der Nebenkläger zu spüren, was der Richter unter „Sitzungsgewalt“ versteht. Bei spekulativen oder unverständlichen oder gar ausufernden Äußerungen wird Götzl rabiat. Am Donnerstag unterbrach er schon nach wenigen Sätzen einen Opfer-Anwalt mit den Worten: „Wollen Sie jetzt ein Zwischenplädoyer halten?“ Der Anwalt verteidigte sich, er habe das Recht auf eine umfassende Erklärung zum Geständnis von Carsten S. Das sah Götzl anders und unterbrach die Verhandlung kurzerhand für die Mittagspause. Als der Anwalt dann immer noch an seiner Erklärung festhielt, kanzelte ihn Götzl wieder ab: „Mit welchem Selbstverständnis treten Sie hier auf?“ Der Anwalt gab auf. Er verschob seine Stellungnahme auf einen anderen Verhandlungstag.

An dem Prozess nehmen derzeit 53 Nebenklage-Anwälte teil. Von den Opfern, die den NSU-Terror überlebt haben, und von den Hinterbliebenen der Ermordeten war zuletzt niemand im Saal. Götzl hat es derzeit fast nur mit Juristen zu tun, die meisten nehmen die strenge Regie hin. Von den sieben beisitzenden Richtern hat sogar keiner auch nur eine Frage gestellt.

Doch der von Götzl aufgestellte Zeitplan ist längst Makulatur. Als letzten Verhandlungstag hat er den 16. Januar 2014 terminiert. Dass bis dahin mehrere hundert Zeugen von Götzl und der Bundesanwaltschaft und elf Verteidigern und mehr als 50 Nebenklage-Anwälten befragt sind, erscheint illusorisch.

Frank Jansen

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