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Zum Schulbeginn am Sonntag hatten sich die USA und Russland auf eine Waffenruhe geeinigt.
© YOUSSEF BADAWI/dpa

Verhängnisvolle Luftangriffe: Die Waffenruhe in Syrien droht zu scheitern

Eine von den USA geführte Koalition tötet offenbar irrtümlich mehr als 60 syrische Regierungssoldaten - trotz Waffenruhe

Nur eine Woche nach der Grundsatzeinigung zwischen den USA und Russland auf eine Waffenruhe in Syrien schwinden die Hoffnungen auf ein Ende des seit mehr als fünf Jahren anhaltenden Konfliktes. Amerikanische und australische Kampfflugzeuge griffen am Samstag offenbar auf Grundlage falscher Zielkoordinaten syrische Regierungstruppen an, töteten 62 Soldaten und ermöglichten so dem „Islamischen Staat“ (IS) neue Geländegewinne. Washington und Moskau machen sich gegenseitig schwere Vorwürfe.

Neu aufgeflammte Gefechte und die Blockierung von Hilfslieferungen an notleidende Zivilisten bringen den Syrien-Deal von Genf zusätzlich ins Wanken.

Die USA und Australien drückten ihr Bedauern über die Opfer unter den syrischen Regierungstruppen aus. Die Angriffe in der ostsyrischen Provinz Deir al Zor hätten dem IS gegolten und seien sofort abgebrochen worden, nachdem russische Militärs die Anwesenheit der syrischen Truppen gemeldet hätten, erklärte die US-Armee. Außerdem sei Russland vor dem Angriff über das Zielgebiet informiert worden.

Versehen oder Taktik?

Das australische Verteidigungsministerium erklärte auf seiner Internetseite, australische Kampfjets würden „niemals“ absichtlich syrische Regierungstruppen angreifen oder dem IS beim Vormarsch helfen. Es war der erste derartige Zwischenfall sei dem Beginn der westlich-arabischen Luftangriffe auf den IS im Irak und in Syrien vor zwei Jahren.

Während die USA den Angriff auf die syrischen Truppen vom Samstag als Versehen bezeichneten, erklärte die russische Regierung als Partnerin des syrischen Präsidenten Baschar al Assad, möglicherweise habe der Angriff dem Zweck gedient, den Waffenstillstand zu untergraben. In den vergangenen Tagen waren erhebliche Differenzen innerhalb der US-Regierung hinsichtlich der Vereinbarung deutlich geworden.

Das Verteidigungsministerium in Washington hat erhebliche Skepsis gegenüber dem geplanten Informationsaustausch zwischen amerikanischen und russischen Militärs in Syrien angemeldet. Die Zusammenarbeit ist Teil der Vereinbarung, die von Außenminister John Kerry und seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow vergangene Woche in Genf ausgehandelt wurde.

USA und Russland machen sich gegenseitig Vorwürfe

Aus Protest gegen den US-Angriff in Syrien bestand Russland auf einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates, wo sich die Botschafter Russlands und der USA scharfe Wortgefechte lieferten, die an die Zeiten des Kalten Krieges erinnerten. Beide Vertreter, Vitaly Tschurkin und Samantha Powers, warfen dem jeweils anderen Land vor, in Syrien gegen den Geist der Vereinbarung von Genf zu handeln.

Powers sagte, Russland ziehe eine „Nummer“ ab und handele mit der Einberufung des Rates höchst scheinheilig: Bei Gräueltaten der syrischen Regierungstruppen schweige Moskau stets. Tschurkin attestierte Powers „Demagogie der höchsten Kategorie“ und betonte es sei „verdächtig“, dass der Luftangriff in Deir al Zor nur zwei Tage vor dem geplanten Beginn der vereinbarten amerikanisch-russischen Zusammenarbeit in Syrien angeordnet worden sei. Hinter dem Genfer Deal stehe nun ein „sehr großes Fragezeichen“.

Der Streit um den Luftangriff ist nicht das einzige Zeichen für das tiefe Misstrauen zwischen den Weltmächten in Syrien. In den vergangenen Tagen hatten sich beide Seiten gegenseitig vorgehalten, bei den jeweiligen Aufgaben zur Beruhigung der Lage in dem Bürgerkriegsland zu versagen. Während die USA die Ablösung Assads fordern, steht Russland auf der Seite des syrischen Präsidenten.

Nur syrische Regierung hält sich wohl an Waffenruhe

Russland sieht keinen Fortschritt bei der Umsetzung der amerikanischen Zusage, gemäßigte Rebellengruppen von den Extremisten der Gruppe Fatah al Scham zu trennen, der umbenannten Al-Qaida-Truppe Nusra-Front. Laut der Genfer Abmachung sollen sich gemäßigte Regimegegner distanzieren, bevor Amerikaner und Russen mit koordinierten Luftangriffen auf Nusra und den IS beginnen. Nur die syrische Regierungsseite halte sich an die Waffenruhe, hatte Russland am Freitag erklärt.

Washington wirft Moskau jedoch vor, entgegen der Genfer Vereinbarung die syrische Seite bisher nicht zur Einstellung von Angriffen und zur Genehmigung von Hilfslieferungen bewegt zu haben. Offenbar sei der russische Einfluss auf Damaskus schwächer als angenommen, zitierte die „Washington Post“ ungenannte US-Regierungsvertreter.

Obwohl die Waffenruhe seit dem vergangenen Montag in Kraft ist, konnten die Vereinten Nationen bisher keine Hilfskonvois losschicken. An der türkisch-syrischen Grenze warten die UN-Fahrzeuge bereits seit mehreren Tagen, um in das nur 60 Kilometer entfernte Aleppo zu fahren. In der syrischen Wirtschaftsmetropole kämpfen Rebellen und syrische Regierungstruppen gegeneinander.

Ob die Genfer Vereinbarung die Spannungen der vergangenen Tage überstehen kann, ist ungewiss. Ein vorheriger Versuch von USA und Russland, in Syrien eine Waffenruhe durchzusetzen, war im Frühjahr bereits nach wenigen Wochen gescheitert.

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