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Kandidat und Anhängerinnen. Hat Warschaus Oberbürgermeister Rafal Trszaskowski gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Andrzej Duda eine Chance? Aufnahme von einer Versammlung in Ciechanow am 9. Juli.
© Kacper Pempel / REUTERS

Polnische Verhältnisse: Die verratene Aufklärung

Polens nächster Präsident wird ein zerrissenes Land regieren. Ein Dialog vor der Stichwahl am Sonntag.

Der polnische Soziologe und Politikwissenschaftler Rafal Pankowski, Jahrgang 1976, ist Professor am Warschauer Collegium Civitas und Kopf der antirassistischen Organisation „Nigdy Wiecej“ (Nie wieder). Die amerikanische Dichterin und Publizistin Ellen Hinsey, Jahrgang 1960, lebt in Berlin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Polen.

ELLEN HINSEY: Am Sonntag wird in einer Stichwahl entschieden, wer Polens nächster Präsident wird. Beginnen wir deshalb mit einem Rückblick auf die erste Wahlrunde: Der amtierende Kandidat der nationalkonservativen PiS, Präsident Andrzej Duda, erhielt 43,5 Prozent der Stimmen, gefolgt von der zentristischen Koalition unter Führung von Rafal Trzaskowski, dem liberalen Kandidaten der Bürgerplattform, mit gut 30 Prozent.

RAFAL PANKOWSKI: Wenn man hinter die reine Statistik sieht, spiegeln diese Ergebnisse die ganze Polarisierung der polnischen Gesellschaft – und zwar nicht nur die politische. Es geht um eine grundsätzliche Uneinigkeit in Bezug auf die Grundwerte. Die Unterstützung der Bevölkerung für die Regierungspartei PiS ist zweifellos groß, vor allem in den östlichen Provinzen, Dörfern und Kleinstädten. Unterstützung für liberale Kandidaten findet man dagegen in den größeren Städten.

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EH: Trotz dieser langjährigen Spaltung haben wir bei den Wahlen vor 2015 allerdings Regierungswechsel erlebt, die den Geist der Rechtsstaatlichkeit nicht verletzten. Ungeachtet der durch die Corona-Pandemie einzigartigen Umstände ist daher auffällig, wie sehr sich die jetzige Wahl von allen früheren Wahlen seit 1989 unterscheidet. Doch zuvor ist es wichtig, noch einmal daran zu erinnern, dass der erste Wahlgang am 28. Juni ein Ersatztermin war. Die PiS und ihr Koalitionspartner „Porozumienie“ (Verständigung) hatten die verfassungsmäßig vorgeschriebene Wahl, die am 10. Mai stattfinden sollte, abgesagt. Die Verfassung verbietet Wahländerungen sechs Monate vor einer Wahl. Die PiS jedoch versuchte hartnäckig, bis vier Tage vor der Wahl eine größere Änderung zu verabschieden.

Unregelmäßigkeiten im ersten Wahlgang

RP: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hob dies als eine der Unregelmäßigkeiten im ersten Wahlgang hervor. Sie wies auch auf die Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hin, jedem Kandidaten die gleiche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ihr Urteil über Polens öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt war unzweideutig: „Die TVP versagte in ihrer gesetzlichen Pflicht zu einer ausgewogenen und unparteiischen Berichterstattung“ und wurde „zu einem Wahlkampfvehikel für den Amtsinhaber“.

EH: Neben dem Missbrauch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch die Regierungspartei ist auch das Ausmaß der hetzerischen, fremdenfeindlichen und homophoben Rhetorik des Amtsinhabers beunruhigend.

RP: Vor fünf Jahren präsentierte sich Duda noch als das gemäßigte Gesicht der PiS, als Stimme des gesunden Menschenverstandes. Umstrittene Themen wurden heruntergespielt. Im Vergleich dazu ist seine diesjährige Kampagne radikal im Ton: Flüchtlinge, Juden, LGBT-Leute – und jetzt auch Deutsche – waren seine Zielscheiben. Die staatlich kontrollierten Medien, vor allem die Fernsehnachrichten, sind heute propagandistischer als in den kommunistischen 1980er Jahren. Im Laufe des letzten Monats sind sie zu einem reinen Vehikel für die Propaganda der Regierungspartei geworden, einschließlich minderheitenfeindlicher Botschaften. Nur wenige Menschen außerhalb Polens würden das Ausmaß dieser Propaganda für möglich halten: Es übertrifft selbst dasjenige autoritärer Regime.

Innere und äußere Feinde

EH: Wir erleben solche Wahlkampfstrategien mit zunehmender Intensität weltweit. Die Rhetorik des Kalten Krieges mit „inneren und äußeren Feinden“ macht heute Flüchtlinge, Roma oder LBGT- Leute zu den Sündenböcken, deren Ausgrenzung konkrete wirtschaftliche und politische Programme ersetzt. Dies ist eine klassische spalterische und populistische Taktik.

RP: Am 12. Juni erklärte der PiS-Abgeordnete Jacek Zalek im Privatsender TVN: „LGBT-Leute sind keine Menschen. Sie folgen einer Ideologie.“ Der Journalist unterbrach schockiert das Interview. Am folgenden Tag wiederholte Präsident Duda denselben Satz bei einer Wahlkundgebung.

EH: Der PiS-Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynski sagte in den 2000er Jahren einmal, dass er sich so weit nach rechts bewegen werde, wie es nötig sei, um Wahlen zu gewinnen. Zwei Jahrzehnte später wissen wir, dass dies nun wirklich sehr weit rechts bedeutet. Es hat zur Radikalisierung des gesamten politischen Felds geführt. Auch hier handelt es sich um eine Strategie mit Folgen für ganz Europa. In Polen hat die rechte Rhetorik lediglich die Besonderheit, dass man in der Tradition des 18. Jahrhunderts für das digitale Zeitalter aktualisierte Sprachbilder rund um den „Verrat“ verwendet.

Katholische Attacke auf den Juden Spinoza

RP: Im Juni griff das öffentlich-rechtliche Fernsehen TVP einen Satz aus einem alten Interview mit Trzaskowski, dem Spitzenkandidaten der Opposition, auf. Dieser hatte erklärt, dass er „an den Gott Spinozas“ glaube. Die TVP-Sendungen betonten als Erstes, dass Spinoza Jude gewesen sei. Dann behaupteten sie, seine Philosophie sei mit dem Katholizismus unvereinbar, womit sie Trzaskowskis eigenen Glauben infrage stellten. Darüber hinaus wurde er beschuldigt, sich für ausländische Lobbys einzusetzen – und dergleichen Verschwörungstheorien mehr. Es ist interessant, dass Andrzej Zybertowicz, ein wichtiger Berater des Präsidenten, in einem Interview mit „La Republicca“ in Rom kürzlich erklärte, dass diejenigen, die die Grundsätze der Aufklärung unterstützten, verloren hätten.

EH: Spalterische Politik und die Negierung der bürgerlichen Integrität des anderen sind leider die neue Normalität. Der ungarische Philosoph János Kis hat einmal geschrieben, dass man in einer Demokratie zwei Arten von Übereinkunft brauche: „Die Parteien sollten sich über den Verfassungsentwurf selbst einig sein, zweitens sollten sie sich auch darauf einigen, dass sie nicht nur Parteien sind, die innerhalb der Grenzen der Verfassung um die Macht konkurrieren, sondern Partner bei der Aufrechterhaltung dieser Grenzen.“ Dies ist ein inspirierendes Ideal. Man kann nur hoffen, dass es noch genügend Aufgeklärte gibt, die es eines Tages wieder zu neuem Leben erwecken.

Ellen Hinsey, Rafal Pankowski

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