Neues Buch von Ellen Hinsey: Der radikale Wille
Die Amerikanerin Ellen Hinsey entwirft in „Des Menschen Element“ eine poetische Anthropologie der Gewalt.
Durch die Blutbahnen der Dichtung strömen neben Götterlob und Minnesang seit Anbeginn auch Mord und Totschlag. Die „Ilias“ birst vor Zorn, Rachsucht, Neid und Habgier, und das Nibelungenlied, die „teutsche Ilias“, so Johann Jacob Bodmer Mitte des 18. Jahrhunderts, trieft von Leichengift. Die Gewalt, die Poesie beschwört, nistet dabei meistens ein Stück weit abseits der Geschichte, wenn nicht ganz im Mythologischen. Genau das macht sie allerdings auch da anfällig für ideologische Verwertung, wo ihr nichts fremder ist als Hetze und Aufstachelung. Als Hölderlin den „Tod fürs Vaterland“ besang, hatte er die Ideen der Französischen Revolution vor Augen, nicht die Opferbereitschaft für Hitlers Kriegsmaschine. Dagegen glaubte Hermann Göring, er könne die Vernichtung der Deutschen im Kessel von Stalingrad unter Verweis auf das Nibelungenlied zu einem Sieg im Untergang stilisieren.
Poesie war stets Kriegstreiberin und Friedensmahnerin zugleich. Dass ihr falscher Patriotismus inzwischen nicht mehr recht gelingt, liegt an der Fähigkeit, sie historisch zu lesen, an ihrer schwindenden Bedeutung wie an der Beharrlichkeit, mit der Lyriker das vermeintlich Schicksalhafte von Waffengängen auf den Boden realer Konflikte zurückgeholt haben. Zaghaft wie Matthias Claudius, satirisch wie Erich Mühsam, sarkastisch wie Bertolt Brecht oder anklagend wie Erich Fried. Rückhaltloser Pazifismus ist damit nicht unbedingt verbunden.
Warum Menschen einander erschießen, erdolchen, vergewaltigen und foltern, untersucht indes niemand besser als die Gewaltforschung. Statt mörderische Affekte nur aus der Perspektive der Handelnden zu betrachten, bemüht sie auch neurophysiologische, sozioökonomische und kulturelle Erklärungen. Die Poesie tut gut daran, sie darin nicht übertreffen zu wollen – oder sich auf ihre ureigenen Stärken zu besinnen. Ein überragendes Beispiel ist die Totenklage „Memorial“, eine „Ilias“-Variation der englischen Dichterin Alice Oswald.
Ein unerhörtes Unterfangen, eine poetische Anthropologie der Gewalt
Von daher wagt sich die amerikanische Dichterin Ellen Hinsey in „Des Menschen Element“ (Update on the Descent) an etwas Unerhörtes: eine poetische Anthropologie der Gewalt. In drei Kapiteln, die von einer Schöpfungserzählung bis zum Jüngstem Gericht reichen, entwirft sie ein gedankenlyrisches Universum, das Erkenntnis sucht, ohne sich in Theorie umformen zu lassen. Dabei sucht sie nach einem Weg zwischen denen, die sich der sozialtechnologischen Hoffnung hingeben, durch die Abschaffung aller Gewaltbedingungen ewigen Frieden zu erreichen, und denjenigen, die dem theologischen Glauben an ein unausrottbar Böses verfallen sind.
Hinsey, 1960 in Boston geboren, lebt seit vielen Jahren in Paris und hat neuerdings ein Standbein in Berlin. Sie hat die Transformationsprozesse in Osteuropa begleitet und ihre einschlägigen Essays vor Kurzem in dem Band „Mastering the Past“ veröffentlicht. Sie hat bei Suhrkamp gerade einen Gesprächsband mit dem litauischen Dichter Tomas Venclova veröffentlicht, „Der magnetische Norden“, und in Russell Bermans Magazin „Telos“ über den Illiberalismus der neuen Eliten zwischen Donald Trumps Amerika und Viktor Orbáns Ungarn geschrieben. Sie hat die Kriegsverbrechertribunale in Den Haag besucht, und zu ihren Schlüsselerlebnissen gehört ein Mord in der eigenen Familie. Schon in „The White Fire of Time“ ging es ihr darum, etwas von der Zerstörungs- und Erniedrigungslust zu begreifen, die sich in allen Spielarten individueller und kollektiver Gewalt zeigt. Während sie die Gedichte dieses Bandes aber dem Bereich der Vita contemplativa zurechnet, zählen für sie die Gedichte von „Des Menschen Element“ zum Bereich der Vita activa – ganz in jenem Sinn, den Hannah Arendt ihm in ihrem 1958 erstmals unter dem Titel „The Human Condition“ erschienenen Hauptwerk gab.
Simone Weil wollte keinen Gegensatz zwischen Mystik und Politik sehen
Weitere Gewährsleute sind Robert Antelme, der mit seinem Bericht „Das Menschengeschlecht“ hellsichtig Zeugnis vom Überleben im Konzentrationslager ablegte. In Gandersheim, einem Außenlager des KZ Buchenwald, lernte er die Schrecken einer Ungewissheit kennen, die auch ohne Gaskammern und Krematorien die Vernichtung alles Humanen betreibt. Hinsey bezieht sich auf die jüdisch-christliche Philosophin Simone Weil, die keinen Gegensatz von Mystik und Politik sehen wollte. Und ihr liegt das Denken von Emmanuel Levinas am Herzen, der in der Aufgabe jedes Einzelnen, Verantwortung für den uneinholbar Anderen zu übernehmen, die Herausforderung des Menschseins sah.
Aufgespannt zwischen den Begriffen von Sein, Einssein, Einzigartigkeit und Besonderheit entsteht ein Denkgebäude, das durch seine traktathaft nummerierte, Gedanken unter Stichzeilen ablegende Form systematische Ambitionen zu haben scheint. In der Heterogenität seiner Stilmittel, die bildhaft Hermetisches, Erzählendes, Aphoristisches und Epigrammatisches umfassen, ist es aber bestenfalls konsequent, nicht konsistent.
Was es sagt, sagt es letztlich in der Sprache der Dichtung. Dennoch lassen sich seine philosophisch-theologischen Anliegen erkennen: die Suche nach „Dualitäten, die jenseits aller möglichen Begriffsbildung eine Einheit bergen“ wie das Bestreben, das Böse aus seinem Status als realer Entität zu erlösen: „Das Böse existiert nicht: nur die Finsternis, die der radikale Wille über das Antlitz Gottes wirft.“ Und wo es auf den ersten Blick verdächtig heideggert, hat vielmehr der Vorsokratiker Parmenides mit seinem einzigen erhaltenen Lehrgedicht über die Unteilbarkeit alles Seienden Einfluss ausgeübt.
Gewalt ist die Urschuld des Mängelwesens Mensch
Die Gewalt, die Ellen Hinsey verstehen will, ist dem Mängelwesen Mensch als Urschuld mitgegeben. Es fühlt sich in seiner vermeintlichen Rolle als Krone der Schöpfung von Anfang an bedroht und lässt dies an seinesgleichen aus, statt sich in die Verbundenheit des Seienden einzufügen. „Das Ich versinkt in der Selbstdefinition wie ein Tier im Schlammwasser“, schreibt Hinsey. „Wenig bleibt haften, das meiste wäscht sich ab.“ Was ist die Folge? „In seiner Armut stützt das Ich sein Haus mit dem Balken des radikalen Willens.“ Die Selbsterhebung über Andere nimmt ihren Lauf, im Wahn des Einzelnen wie im Wahn der Stammeszugehörigkeit, die einen Hass ausbrütet, der nicht selten etwas als Fremdes bekämpft, das ihm selbst allzu vertraut ist.
Eindrücklich die „kurze Geschichte der Hand“, die in elf Aphorismen aus Gesten und Aktionen eine eigene leibseelische Logik entwickelt. „Die Hand mag es bequem“, heißt es da. „Stein oder Knüppel fügen sich ihr gut.“ Und an anderer Stelle: „Ihre Schuld ist schnell gemildert. Die erhobene Hand ist eine Litanei (catalogue) von Rechtfertigungen.“ Oder die „kurze Biografie der Tyrannei“, an deren Ende – man denke an den Stalinismus – das Rätsel steht, „warum immer wieder Blumen auf ihrem Grab zu finden sind.“
Ein weiterer Abschnitt untersucht das Verhältnis von Gewalt und Vorstellungskraft und kommt zu dem Schluss: „Die Imagination unterliegt ihren eigenen höchsten Gesetzen. Nicht alle Taten kann man sich vorstellen.“ Mitunter wird es, ohne Nennung von Zeit und Ort, aber auch konkret. In einer Szene vor Gericht beschreibt ein Mann, was ihm an Folterqualen angetan wurde, will aber auch das für ihn Entscheidende hinzufügen: Er habe seinen Peiniger gekannt. Das Gericht sagt ihm nur: „Bleiben Sie bei den Fakten.“
Diese Poesie ist bereit, es mit allen Furien aufzunehmen
Dies ist keine littérature engagée, aus der sich Handlungsanweisungen ergeben, aber eine Literatur, die weiß, dass sie dem Gemetzel dieser Welt standhalten muss. Hinseys Hoffnung ist die Gnade eines momentweisen Hinaustretens aus dem Fatalitätszusammenhang im Phänomen der Güte, wie es der Wassili Grossmann in seinem epochalen Stalingrad-Roman „Leben und Schicksal“ charakterisiert hat. Kein moralisch sicherer Ausweg, aber ein Spalt, der sich manchmal öffnet, eine „private Güte des Einzelnen gegenüber einem anderen Einzelnen, die kleine Güte, die keinen Zeugen hat und keine Idee; man könnte sie die gedankenlose Güte nennen; Güte des Menschen außerhalb des religiösen und gesellschaftlichen Guten.“
Ellen Hinseys Gedichte zeugen auch von einem Kampf darum, sich die Sprache, in der man über Gewalt schreibt, nicht zerbrechen zu lassen. Selbst die dunkleren Passagen haben eine sichtlich hart erarbeitete Bündigkeit – zumindest im englischen Original. Denn Uta Gosmanns Übersetzung ist im Großen und Ganzen zwar gut lesbar, im Detail aber fragwürdig. Neben der Versuchung, einfache Wörter wie „pilgrimage“ (Pilgerreise) zu einem „Bußgang“ aufzudonnern, ist es vor allem die kleine scholastische Begriffsmusik, der sie nicht gerecht wird. Abgesehen davon, dass sich der Neologismus „Einzelkeit“ für „particularity“ durch nichts rechtfertigen lässt, hebelt sie die interne Logik gerne aus, indem sie wiederkehrende Begriffe unterschiedlich übersetzt. Insofern ist es ein doppeltes Glück, dass dieses Buch in einer zweisprachigen Ausgabe erscheint.
Ellen Hinsey schultert viel, vielleicht zu viel. Der durchdringende, zur Ironie hin offene Ernst, mit dem sie den „täglichen Abstieg in des Menschen Element“ von Grund auf durchdenkt, ist nicht nur ein Anspruch, dem man mit entsprechender Lektüregeduld begegnen muss. Er zeigt auch, wozu eine Poesie in der Lage ist, die bereit ist, es mit so ziemlich allen Furien dieser Welt aufzunehmen: „der Furie des Begehrens“, wie es im Kapitel über „das Unbehagen des Seins in der Zeit“ heißt, der „Furie der Selbsttäuschung“ und der „Furie des Fortschritts“.
Ellen Hinsey: Des Menschen Element. Aus dem amerikanischen Englisch von Uta Gosmann. Zweisprachige Ausgabe. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 159 Seiten, 26 €.
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