Pflegebedürftige und ihre Angehörige: Die vergessenen Opfer der Pandemie
Pflegebedürftige und ihre Angehörige sind besonders von Pandemiefolgen betroffen. Eine Vielzahl von ihnen leidet an schweren psychischen Belastungen.
Aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus hat bald jeder dritte pflegebedürftige Mensch in Deutschland, der zu Hause von Angehörigen versorgt wird, während des Lockdowns die eigene Wohnung über Monate gar nicht mehr verlassen.
Die große Mehrheit der häuslich Gepflegten (81 Prozent) vermied überdies – ebenfalls aus Gründen der Verunsicherung und des Selbstschutzes – jeglichen Kontakt zu Menschen außerhalb des eigenen Haushalts. In der Folge kam es vor allem zu schweren psychischen Belastungen bei den Pflegebedürftigen (78 Prozent) und ihren Angehörigen (84 Prozent).
Dies ist, in dürren Zahlen erzählt, das Ergebnis der bundesweit ersten Studie zur Situation von mehr als drei Millionen ambulant daheim gepflegter Menschen in Deutschland und ihrer Familien während der Pandemie. Im Auftrag des Sozialverbands VdK hatten Sozialwissenschaftler der Hochschule Osnabrück zwischen März und Mai 2021 mehr als 16 000 VdK-Mitglieder, darunter sowohl Pflegebedürftige wie auch pflegende Angehörige, online dazu befragt, wie es ihnen gelungen sei, während der Pandemie die häusliche Pflege aufrechtzuerhalten und wie sie mit den Einschränkungen klargekommen seien.
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Bislang hatten es weder Politik noch Wissenschaft der Mühe wert befunden, ihre Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse der großen Gruppe derjenigen zu lenken, die ihre Angehörigen oft seit vielen Jahren ehrenamtlich und in den eigenen vier Wänden pflegen – kostendämpfend, still und weiblich zumeist. Es gehe hier nicht um bedauernswerte Einzelschicksale, betonte die VdK-Präsidentin Verena Bentele bei der Vorstellung der Untersuchung in Berlin, „wir sprechen von 3,1 Millionen Menschen, die zu Hause gepflegt werden, und ihren Angehörigen, wir sprechen von 80 Prozent aller Pflegebedürftigen Deutschlands“.
Für die Pflegeheime habe die Regierung millionenschwere Rettungsschirme aufgelegt, für die Pflegekräfte immerhin Applaus und Boni gefunden. Wer daheim pflege oder gepflegt werde, sei indes leer ausgegangen. Die „Vergessenen der Pandemie“ nannte Bentele diese Menschen – und drohte mit juristischen Schritten. Der VdK werde „jetzt die einkassierte Erhöhung des Pflegegeldes einklagen – notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht“. Denn die Erhöhung aller Pflegeleistungen im Umfang von 1,8 Milliarden Euro sei im Koalitionsvertrag angekündigt gewesen, dann aber auch bei der Pflegereform im Juli nicht umgesetzt worden.
Mit der Pandemie änderte sich ihr Leben schlagartig
Einen Einblick in den Alltag der Betroffenen unter Corona – jenseits nüchterner Statistik –, in die Momente der Verzweiflung und der Angst, der Überforderung und der Erschöpfung, aber auch der Dankbarkeit und Zuversicht, gewährte am Montag die aus Baden-Württemberg nach Berlin gereiste Rentnerin Edeltraud Geister. In Biberach, ihrer Heimatstadt, hatte die heute 67-Jährige noch bis vor zwei Jahren als Laborassistentin gearbeitet, in Altersteilzeit, und das, obwohl ihr Mann Peter Geister bereits damals an Demenz erkrankt war und ihrer Betreuung bedurfte. „Aber er ist viel spazieren gegangen, er konnte noch einkaufen gehen, er kannte viele Menschen.“
Mit der Pandemie ändert sich ihr Leben schlagartig. „Wir gehörten beide zur Risikogruppe, aber ich hatte vor allem Angst, dass er sich anstecken könnte und ich ihn dann nicht im Krankenhaus besuchen dürfte – das hätte er doch nie verstanden“, erzählt Edeltraud Geister. Also verbietet sie ihm die geliebten Spaziergänge, bittet die Kinder, die Einkäufe vor der Haustür abzustellen – bloß kein Körperkontakt. Ihr Mann wird misstrauisch, warum zwingt sie ihn, eine Maske aufzusetzen? Die Eheleute streiten. Derweil schreitet Peter Geisters Krankheit voran, nachts plagen ihn Angstträume.
Zu diesem Zeitpunkt, es ist der erste Lockdown, wehrt sich Edeltraud Geister gegen den Gedanken, sie könne die Pflege allein nicht mehr stemmen. Ihren Mann weggeben? Niemals. Eine Einschätzung, die laut der Studie viele Pflegebedürftige und ihre Angehörigen teilen: Auch während der Pandemie hielten sie ihre Situation daheim für deutlich besser als im Pflegeheim. Nur zwölf Prozent der Befragten gaben an, sich hilflos und alleingelassen zu fühlen.
Dann aber werden bei Peter Geister nicht bloß Ergo- und Physiotermine abgesagt und wird die Tagespflege geschlossen. All die kleinen Stützen, die sie im Alltag entlasten, ihr Kraft geben, sie brechen weg. Die Haushaltshilfe: quittiert den Job, zu hoch das Ansteckungsrisiko. Die Turngruppe: sieht sie allenfalls noch per Zoom. Der Kaffeeklatsch mit Freundinnen: besser nicht.
In der Studie heißt es dazu: „37 Prozent der Pflegehaushalte nahmen keine Unterstützungsangebote mehr in Anspruch, hauptsächlich weil diese geschlossen wurden.“ Im Lockdown im Frühjahr 2021 ist Edeltraud Geister am Ende ihrer Kräfte. Depression, Einweisung in die Klinik. Wer soll sich nun um ihren Mann kümmern?
Der VdK forderte gestern einen Krisen- und Katastrophenplan, der die Versorgung zu Hause sicherstellen solle, auch wenn Pflegebedürftige und ihre Angehörigen nicht mehr das Haus verlassen könnten oder wollten. Ambulante Leistungen für die Pflege daheim seien zu erhöhen; Entlastungsangebote für pflegende Angehörige auszubauen.
Es wäre ein Zeichen der Anerkennung und des Respekts der Leistung pflegender Angehöriger. Für viele Betroffene indes kommt es zu spät: Peter Geister lebt seit Juni in einem Pflegeheim.
Heike Haarhoff