Gericht untersagt Streik in Berlins Klinikkette: Vivantes-Chef spricht zu Pflegekräften – „Gesundheitswesen braucht Komplettreform“
Pflegekräfte von Charité und Vivantes legten die Arbeit nieder – ohne Notdienst-Vereinbarung. Der Vivantes-Vorstand erwirkte eine einstweilige Verfügung.
In Berlins landeseigenen Kliniken, der Charité und den Vivantes-Krankenhäusern, startet die Woche mit einem Arbeitskampf der Pflegekräfte. Nach dem Applaus in der Pandemie fordern sie einen Tarifvertrag über bessere Personalquoten. Die Streikenden sammelten sich mittags vor der Vivantes-Zentrale in Reinickendorf.
In die Streikkundgebung platze die Nachricht, dass der Vivantes-Vorstand eine einstweilige Verfügung erwirkt hat, wonach der Streik der Pflegekräfte untersagt wird. Begründet hat dies das Arbeitsgericht mit der fehlenden Notdienst-Vereinbarung, sieht aber zugleich grundsätzlichen Klärungsbedarf: Ist der von Verdi geforderte Vertrag zur Entlastung mit den bestehenden Tarifen vereinbar? Wäre dies nämlich nicht der Fall, dann gilt die sogenannte Friedenspflicht, ein Streik könnte somit untersagt werden.
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Völlig ungeplant, so berichten es Vivantes-Manager, habe sich Vorstandschef Johannes Danckert dazu entschlossen, die Zentrale zu verlassen und vor dem Haus zu den Streikenden zu sprechen. Dabei verteidigte Danckert den Gang zum Gericht, schon um das komplexe Anliegen der Gewerkschaft juristisch bewerten zu lassen.
Danckert sagte auch, er stimme den Streikenden weitgehend zu – ja, man brauche mehr Pflegepersonal, auch verbindlich. Über eine rechtssichere Form und konkrete Zahlen müsse man verhandeln, zugleich aber die Krankenversorgung in der Stadt aufrechterhalten.
Wie viel Einfluss nimmt die Politik auf die Vivantes-Kliniken?
Die Streikenden waren dennoch wütend, zumal der Gerichtsbeschluss die Gewerkschaft verpflichtet, den Streik sofort auszusetzen. Dem Tagesspiegel sagte Danckert auf Anfrage: "Das Problem fehlender Pflegekräfte und die unzureichende Ausstattung der Krankenhäuser werfen so grundsätzliche Fragen auf, dass wir sie kaum bei Vivantes allein lösen können, auch nicht nur in Berlin. Vielmehr braucht das Gesundheitswesen eine bundesweite Komplettreform hin zu mehr Daseinsvorsorge."
Auf der Verdi-Kundgebung wollten gerade die Spitzenkandidaten sprechen, als die Nachricht über die einstweilige Verfügung den Protest erreichte. Die Landespolitiker mussten improvisieren.
SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey kündigte umgehend an, mit SPD-Finanzsenator Matthias Kollatz, der auch dem Vivantes-Aufsichtsrat vorsitzt, zu telefonieren. Tatsächlich bat der Vorstand der Klinikkette wenig später Verdi um ein Gespräch über die Notdienst-Pläne. Bettina Jarasch (Grüne) regte an, den Vivantes-Vorstand in der Zentrale zu besuchen – und so sprachen dann auch Giffey, Klaus Lederer (Linke, auch Kultursenator) und Kai Wegner (CDU) in der neunten Etage mit Danckert.
Formal gilt die Entscheidung des Gerichts nur für Vivantes. Charité-Personalchefin Carla Eysel sagte dem Tagesspiegel am Montag: "Auch wir kritisieren die harte Linie von Verdi, nur auf Maximalforderungen zu beharren. Von einem gerichtlichen Verbot eines Streiks aber sehen wir derzeit ab." Man hoffe, zügig wieder mit der Gewerkschaft verhandeln zu können.
Auf welchen Stationen sollen Pflegekräfte streiken – und wie wirkt sich das aus?
Am Montag waren stadtweit ab 6 Uhr Mitarbeiter von Vivantes und Charité in den Streik getreten. An allen Standorten, also den acht Vivantes-Kliniken und den drei Charité-Campus sollen zwischen "30 bis über 100 Beschäftigte" die Arbeit niedergelegt haben, wie Verdi-Verhandlungsführerin Meike Jäger sagte.
Am Dienstag sollten vor der Verfügung des Arbeitsgerichts zwölf Teams der Vivantes-Krankenhäuser und sieben Teams der ebenfalls landeseigenen Universitätsklinik streiken. Verdi zufolge wäre somit in fast allen der acht Vivantes-Kliniken und auf den drei Charité-Campus mindestens je eine Station betroffen – also von Steglitz-Zehlendorf bis Marzahn-Hellersdorf, von Spandau bis Neukölln. Bislang ist von Normalstationen der Gastroenterologie, Chirurgie und Geriatrie die Rede.
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Verdi droht bereits: Bewegen sich die Arbeitgeber nicht, lasse man ab 30. August über einen unbefristeten Ausstand größeren Ausmaßes abstimmen. Dann könnten im September alle Gewerkschaftsmitglieder zum „Erzwingungsstreik“ aufgerufen werden. Zehntausende Behandlungen in den betroffenen Stationen müssten vorerst abgesagt werden.
Schon jetzt hat die Charité circa 2000 Behandlungen auf die Zeit nach Mittwoch verschoben, ebenso viele dürften es bei Vivantes sein. Bislang haben sich Verdi und die Vorstände von Charité und Vivantes nicht auf eine formale Notdienst-Vereinbarung geeinigt.
Warum sind diese Notdienst-Vereinbarungen so bedeutsam?
Planbare Eingriffe, die sich verschieben lassen, werden in Krisen abgesagt: So war das zu den Höhepunkten der Coronavirus-Pandemie, so ist es auch im Streikfall üblich. Das gilt nicht für Notfälle und zeitkritische Operationen (wie in der Tumorbehandlung). Dazu einigen sich beide Seiten auf Einsatz-Modalitäten. Diesmal gelingt das kaum.
Die Vorstände von Charité und Vivantes wollen möglichst viele Patienten als nicht zu verschiebende Akutfälle einstufen, die Verdi-Verhandler fürchten um die Wirksamkeit des Arbeitskampfes. Die Gewerkschaft will, dass ganze Teams streiken, letztlich also Stationen gesperrt werden – sonst spüre den Streik kaum jemand.
Kranke, die schon in den Betten liegen, versorge man selbstverständlich, sagten die Verdi-Verhandler. Komme keine Notdienst-Regelung zustande, halte man einen an den Wochenenddiensten orientierten Standard aufrecht.
Berlins Arbeitsgericht erließ nach einer Vivantes-Klage jedoch eine einstweilige Verfügung: Streik ohne Notdienst könne zu „Gefahr für Leib und Leben“ von Patienten führen, die Gewerkschaft müsse sich – vereinfacht formuliert – den Notdienstideen der Arbeitgeber beugen. Der Beschluss bezieht sich auf das Küchen- und Reinigungspersonal. Er schränkt den Pflegestreik aber ein.
Was fordern die Streikenden – und ist eine Einigung in Sicht?
Verdi fordert einen „Entlastungstarifvertrag“: einen fixen Schlüssel für mehr Pflegekräfte. Zudem solle für Reinigungs-, Transport- und Küchenpersonal der Vivantes-Tochterfirmen der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes gelten, was im Einzelfall 800 Euro mehr Monatslohn bedeuten kann. Allein das koste Vivantes bis zu 35 Millionen im Jahr, so der Vorstand, die verschuldete Klinikkette könne sich das nicht leisten.
In der Pflege müssten der Verdi-Forderung zufolge mindestens zehn Prozent mehr Fachkräfte eingesetzt werden. Für die Charité heißt das: Zu den derzeit 4700 angestellten Pflegekräften wären circa 500 weitere nötig. Die gebe der Arbeitsmarkt derzeit nicht her, sagte Charité-Personalchefin Eysel.
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Verpflichte sich die Hochschulklinik also zu den Verdi-Personalquoten, könne man diese nur umsetzen, wenn man 80.000 Patienten pro Jahr weniger versorge. Weil Kliniken pro Diagnose mit „Fallpauschalen“ bezahlt werden, gebe es dann weniger Geld der Krankenkassen, was zur Folge hätte, dass Stellen gestrichen werden müssten.
Ein formales, in der Politik jedoch gewichtiges Problem kommt dazu: Charité und Vivantes gehören Berlins kommunalem Arbeitgeberverband an. Für diesen KAV tritt der Dachverband der kommunalen Arbeitgeber (VKA) auf, der satzungsgemäß selbst über einen etwaigen Entlastungstarifvertrag verhandeln müsste.
Der Charité-Vorstand bot der Gewerkschaft eine hausspezifische Vereinbarung an, die „so wirksam wie ein Tarifvertrag sei“, sagte Eysel. In eine Dienstvereinbarung nähme man eine Streikklausel auf, damit vorher vereinbarte Personalschlüssel mit einem Arbeitskampf durchgesetzt werden könnten. Eine Einigung ist nicht absehbar.
Was sagt die Landesregierung – und was die Opposition?
Politiker der rot-rot-grünen Koalition erklärten sich mit den Pflegekräften solidarisch. Die zuständigen Senatoren – Dilek Kalayci (Gesundheit) und Matthias Kollatz (Finanzen), beide SPD – blieben stiller.
Deutlich wurde zwar Arbeitssenatorin Elke Breitenbach (Linke), die den Streik als „legitim“ bezeichnete. Doch auch Breitenbach gehört zur Landesregierung, die offenbar keine Lösung sieht. Einige in Gesundheitswesen und Opposition sagen: Der Senat könne durchaus schnell denn Kliniken helfen, wenn das auch rechtlich kompliziert sei.
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CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner teilte mit, der Applaus für die Pflegekräfte in der Coronakrise sei „ein großartiges Zeichen“ gewesen, nun aber seien „handfeste Verbesserungen“ nötig: „Bessere Arbeitsbedingungen gibt es nicht ohne einen besseren Personalschlüssel.“
[Informationen für Patienten unter www.vivantes.de und www.charite.de – die Charité ist ab 8 Uhr auch unter 030/450 550 500 zu erreichen.]
Als Kernproblem bezeichnete Wegner, „dass der Senat seiner Investitionsverpflichtung nicht nachkommt“ – gemeint sind die knappen Mittel, um Bauten und Technik zu modernisieren. „Dadurch werden Krankenhäuser gezwungen, zwingende Instandhaltungskosten mit Fallpauschalen quer zu finanzieren“ – ein Vorwurf, der auch in den Kliniken selbst erhoben wird. Berlins Krankenhausgesellschaft spricht von 350 Millionen Euro pro Jahr, um marode Bauten und fehlende Digitalisierung anzugehen.
Florian Kluckert, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP im Abgeordnetenhaus sagt: „Nicht erst seit Corona hängt die Berliner Krankenhauslandschaft am Tropf und ist Dauerpatient auf der Intensivstation.“ Der Senat müsse die landeseigenen Kliniken so ausstatten, dass sie „konkurrenzfähig“ seien. Denn die Patienten könnten ihre verschobenen Behandlungen, das sagt Kluckert nicht, auch in anderen, privat-wirtschaftlich betriebenen Kliniken nachholen lassen.