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WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus rief vor einem Jahr den Gesundheitsnotstand aus - zu spät, sagen seine Kritiker.
© Fabrice Coffrini/Pool via REUTERS/File Photo

Eine Jahr Gesundheitsnotstand: Die umstrittene Rolle des WHO-Chefs Tedros

Vor einem Jahr rief WHO-Chef Tedros den Gesundheitsnotstand aus. Seither fordern viele seinen Rücktritt – ihn schert das kaum.

Die Weltöffentlichkeit lernte Tedros Adhanom Ghebreyesus sofort als einen Mann mit besorgter Miene kennen. So präsentierte sich der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedenfalls vor einem Jahr, am 30. Januar 2020, dem globalen Publikum.

Vor Dutzenden Journalisten, laufenden Kameras und umringt von Fachleuten rief der Äthiopier angesichts des „neuen Coronavirus“ den internationalen Gesundheitsnotstand aus – die höchste globale Alarmstufe der WHO. Es gehe nicht so sehr um das, was in China geschehe, sagte er. „Unsere größte Sorge ist die Ausbreitung des Erregers in Ländern mit schwächeren Gesundheitssystemen, die nicht darauf vorbereitet sind.“

Seit jenem denkwürdigen Auftritt im Genfer WHO-Hauptquartier steht der Mann, der fortan als Doktor Tedros bekannt wird, immer wieder in der Kritik. Die Vorwürfe: Zu langsam, zu unentschlossen, zu selbstgefällig reagiere Tedros auf den Corona-Ausbruch, der zur schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg eskalierte.

So konnte sich die WHO unter Tedros lange nicht zu klaren Empfehlungen zum Maskentragen durchringen. So zelebrierte Tedros mit dem höchst umstrittenen Chef des Fußball-Weltverbandes Fifa, Gianni Infantino, eine Partnerschaft gegen Covid-19.

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Noch hält sich Tedros, ein Doktor der öffentlichen Gesundheit, im Amt des WHO-Generaldirektors, in das er 2017 aufrückte. Der 55-Jährige ist jedoch bis zum Ende seiner Amtszeit 2022 ein WHO-Chef auf Bewährung – heißt es aus diplomatischen Kreisen.

Spätestens auf der Weltgesundheitsversammlung im nächsten Jahr werden die 194 WHO-Mitgliedsländer über seine Zukunft entscheiden. Viel wird für Tedros davon abhängen, ob das WHO-Programm für Covid-19-Impfungen zum Erfolg wird. Doch erst im Februar soll es mit der Lieferung von Impfdosen beginnen.

Bei Tedros’ weiterer Karriereplanung wird auch das WHO-Schwergewicht USA wieder ein gehöriges Wort mitreden. Direkt an seinem ersten Amtstag stoppte der neue US-Präsident Joe Biden den Austrittsprozess seines Landes aus der WHO. „Das ist ein guter Tag für die WHO“, jubelte Tedros. Jetzt muss er der Biden-Administration zeigen, dass er weiterhin der Richtige an der WHO-Spitze ist.

Zumal er inmitten der Coronakrise ausgerechnet von der Regierung seines Heimatlandes attackiert wird. Tedros diente von 2005 bis 2016 in einem autoritären Regime in Äthiopien zuerst als Gesundheitsminister, dann als Außenminister.

Im Jahr 2018 übernahm die aktuelle Regierung in Addis Abeba die Macht. Die äthiopische Armeeführung behauptete im November des vergangenen Jahres, Tedros agitiere in dem blutigen Konflikt um die Tigray-Region gegen den Zentralstaat. „Das ist nicht wahr“, entgegnet er.

Auch sein allzu enges Verhältnis zu China irritiert

Das Kopfschütteln über Tedros begann im Januar 2020, als er tagelang zögerte, bis er wegen Corona den internationalen Gesundheitsnotstand anordnete. Eine Untersuchungskommission legt jetzt nahe, dass die WHO „raschere und stärkere Warnungen“ hätte aussenden können. Brisant: Die Kommission mit der früheren Präsidentin Liberias, Ellen Johnson Sirleaf, als Co-Vorsitzende wurde von der WHO selbst auf den Weg gebracht.

Ebenso irritierte das allzu enge Verhältnis des WHO-Chefs zum autoritären China. Tedros überschüttete das Covid-19-Ursprungsland lange mit Lob. Als Tedros den Notstand ausrief, versicherte er: „China setzt derzeit neue Maßstäbe bei der Reaktion auf einen Ausbruch.“

Schon damals kamen erhebliche Zweifel an Pekings Corona-Politik auf. Später bezichtigte der damalige US-Präsident Donald Trump die WHO und China, den Ausbruch gemeinsam vertuscht zu haben. Die Manöver von Tedros seien „tödlich“; Trump leitete daraufhin den US-Ausstieg aus der WHO ein.

Zwar wollte der ehemalige US-Präsident mit dem Frontalangriff von eigenen Corona-Versäumnissen ablenken, doch auch Gesundheitsexperten wie David P. Fidler vom Council on Foreign Relations geißelten den WHO-Schmusekurs gegenüber China. Die WHO habe „ihre Neutralität untergraben“.

Über die Lippen des WHO-Chefs kam lange so gut wie kein kritisches Wort an die Adresse Chinas. Erst am 5. Januar dieses Jahres wurde es dann auch Tedros zu viel. Mehrere Tage hatten Chinas Behörden die Einreise internationaler Corona-Experten blockiert. „Ich bin sehr enttäuscht“, brachte Tedros hervor.

Am Donnerstag hat das WHO-Team in China nun die Arbeit aufgenommen – nach Ablauf der 14-tägigen Quarantäne. Tedros versicherte, Chinas Gesundheitsminister habe die erforderliche Unterstützung zugesagt. Die Untersuchungsergebnisse werden auch über Tedros’ Zukunft mitentscheiden.

Jan Dirk Herbermann

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