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Abdullah Gül verkündete seine Entscheidung am Samstag.
© Bulent Kilic/AFP

Nach Verzicht von Ex-Präsident Gül auf Kandidatur: Die Türkei steht vor einem neuen Rechtsruck

Ex-Präsident Gül wird bei der der türkischen Präsidentschaftswahl nicht gegen Erdogan antreten. Daher gibt es am 24. Juni keinen Kandidaten der Mitte.

Auch nach dem Verzicht des ehemaligen Staatschefs Abdullah Gül auf eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei kann sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogans eines Sieges nicht sicher sein. Mit offener Kritik an seinem ehemaligen Partner Erdogan zeigte Gül, wie weit verbreitet die Unzufriedenheit mit der Regierung inzwischen selbst in konservativ-islamischen Kreisen ist. Doch auch ohne Gül ist das Rennen um das höchste Staatsamt nach Einschätzung eines führenden Demoskopen offener, als sich Erdogan das wünschen würde.

Anders als der 64-jährige Erdogan gilt der drei Jahre ältere Gül als überzeugter EU- und Reformanhänger. Als ein weit über die von ihm mitgegründete Regierungspartei AKP hinaus respektierter Politiker könnte Gül, das war die Hoffnung, die Opposition gegen den autokratischen Erdogan einen. Doch Güls Vergangenheit als langjähriger Partner Erdogans verhinderte den Konsens.

Insbesondere in der säkularistischen Oppositionspartei CHP hagelte es Kritik an Gül. Wenn es eine „sehr breite Übereinstimmung“ bei den Erdogan-Gegnern gegeben hätte, wäre er ins Rennen gegangen, sagte Gül. Doch die sei nicht zustande gekommen. Der Ex-Präsident verband seine Verzichtserklärung mit Kritik an der Erdogan-Regierung und warf ihr ein „Klima der Ausgrenzung, Angst und Sorgen“ vor.

Güls mögliche Kandidatur hatte die AKP und Erdogan selbst sehr nervös gemacht: Schließlich galt Gül als jemand, der viele islamisch-konservative Wähler anziehen und Erdogan damit den Sieg in der ersten Rund der Präsidentenwahl am 24. Juni verhageln könnte. Erreicht kein Kandidat im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent, gibt es am 8. Juli eine Stichwahl. Erdogan will mit der Wahl den Übergang zu einem Präsidialsystem vollenden, das ihm selbst als Staatsoberhaupt weitreichende Machtbefugnisse einbringen würde.

Erdogan soll sogar seinen Generalstabschef geschickt haben

Um Güls Bewerbung zu verhindern, soll Erdogan am Mittwoch vergangener Woche sogar seinen Generalstabschef Hulusi Akar per Helikopter zu Gül nach Istanbul geschickt haben. Drei Stunden lang habe Akar den Ex-Präsidenten beackert, sagt der Oppositionspolitiker Baris Yarkadas. CHP-Sprecher Engin Altay nannte den Einsatz des Militärchefs einen „Putsch“. Die Regierung setzte alles daran, Akars Besuch unter der Decke zu halten. Eine Online-Meldung des Senders Habertürk wurde gelöscht, der Chef der Internet-Abteilung des Senders musste seinen Posten aufgeben. Erdogan erklärte drohend, er wisse genau, wer alles mit Gül unter einer Decke gesteckt habe: „Ich kenne jeden einzelnen Namen.“

Doch Erdogan ist mit Güls Absage nicht alle Probleme los. Viele bisherige AKP-Wähler könnten angesichts des Kurses der Regierung und wachsender wirtschaftlicher Probleme am 24. Juni von der Fahne gehen, sagte der Meinungsforscher Murat Gezici dem Tagesspiegel. Gezici zufolge hat Meral Aksener, die Chefin der neuen Nationalisten-Partei Iyi Parti ("Gute Partei"), als Präsidentschaftskandidatin durchaus Chancen, in der zweiten Wahlrunde die Unzufriedenen hinter sich zu scharen und Erdogan zu besiegen. Insbesondere bei den Jungwählern und in den Großstädten sinke die Unterstützung für den Präsidenten, sagte Gezici.

Nach Güls Rückzug ist kein Kandidat der Mitte in Sicht: In Ankara steht deshalb nach den Wahlen ein neuer Rechtsruck bevor – egal, wer gewinnt. Damit wird die Wahl zu einem wichtigen Moment im schwierigen Verhältnis zwischen Ankara und dem Westen.

Susanne Güsten

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