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PKK-Rebellen griffen in Diyarbakir eine Polizeistation und ein Wohnheim der Beamten an.
© dpa
Update

Tote bei Anschlägen der PKK: Türkisches Kurdengebiet von neuer Gewalt erschüttert

Die Kämpfe im türkischen Kurdengebiet erreichen einen neuen grausamen Höhepunkt. Die Vorfälle könnten die Massenflucht aus der Region noch verstärken.

Kurz nach dem islamistischen Selbstmordanschlag in Istanbul wird die Türkei von neuer Gewalt erschüttert. In der Nacht zum Donnerstag erreichten die seit Monaten anhaltenden Gefechte im Kurdengebiet mit einem Angriff der PKK-Rebellen auf eine Polizeistation und ein Polizisten-Wohnheim einen neuen grausamen Höhepunkt. Bei dem Angriff in Cinar in der Nähe der Großstadt Diyarbakir starben in der Nacht zum Donnerstag sechs Menschen, darunter zwei Kleinkinder von fünf und zwölf Monaten sowie ein fünfjähriger Junge.

Der Vorfall könnte eine bereits begonnene Massenflucht aus dem Kurdengebiet beschleunigen. Fast 100.000 Menschen haben die Gegend bereits verlassen. Hoffnung auf ein baldiges Ende der Gewalt gibt es nicht, auch weil der Konflikt eng mit der Situation im benachbarten Bürgerkriegsland Syrien zusammenhängt.

In Cinar zündeten PKK-Rebellen zunächst eine Autobombe und eröffneten anschließend das Feuer mit Gewehren und Panzerfäusten auf die Polizeigebäude. Nach Medienberichten starben die Kinder in dem Wohnheim, das durch die Explosion schwer beschädigt wurde. Auch in Diyarbakir selbst brachem am Donnerstag neue Kämpfe aus.

Der Häuserkampf hat Teile von Städten wie Diyarbakir oder Cizre stark zerstört

Seit Monaten liefern sich türkische Sicherheitskräfte und Kämpfer der PKK mitten in dicht besiedelten Stadtvierteln in Südostanatolien schwere Gefechte. Die PKK hat im Kurdengebiet einseitig autonome Zonen ausgerufen, die sie mit Gräben und Barrikaden gegen den türkischen Staat durchzusetzen versucht. Ankara antwortet mit großflächigen Ausgehverboten und militärischer Gewalt.

Der Häuserkampf hat Teile von Städten wie Diyarbakir oder Cizre so stark zerstört, dass die Bilder aus den betroffenen Gebieten wie Fotos aus Syrien wirken. Nach Angaben der Türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV sind allein zwischen dem 11. Dezember und dem 9. Januar mindestens 162 Zivilisten bei den Kämpfen getötet worden, darunter 29 Frauen und 32 Kinder.

Beiden Seiten werden Grausamkeiten vorgeworfen. Die Anwaltskammer in Van erklärte, die Leichen von einigen in der Stadt ums Leben gekommenen PKK-Kämpfern seien mit Kopfschüssen getötet worden, was auf außergerichtliche Exekutionen hindeuten könnte. In der regierungsnahen türkischen Presse heißt es dagegen, die PKK töte nicht nur Soldaten und Polizisten, sondern richte auch mutmaßliche Gegner unter den Zivilisten hin.

Führende Kurdenpolitiker brachten die Regierung in Ankara gegen sich auf

Auch auf der politischen Ebene eskalieren die Spannungen. Führende Kurdenpolitiker brachten die Regierung in Ankara gegen sich auf, indem sie Autonomieforderungen unterstützen – und damit aus Sicht von Präsident Recep Tayyip Erdogan und anderen PKK-Positionen vertraten. Erdogan warf dem Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, deshalb Verrat vor und forderte die Aufhebung von dessen parlamentarischer Immunität.

Erdogan und die Regierung kritisierten auch eine Initiative von 1100 Akademikern, die in einer Erklärung zu einem Ende der Gewalt aufgerufen hatte, die PKK-Angriffe dabei aber nicht erwähnte. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu fragte die Unterzeichner am Donnerstag, was sie zu dem Tod eines fünfmonatigen Säuglings in Cinar zu sagen hätten. Erdogan sagte mit Blick auf die Initiative, es gebe keinen Unterschied zwischen Terror-Gewalt und Terror-Propaganda.

An eine Wiederaufnahme der im Sommer abgebrochenen Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK ist derzeit nicht zu denken. Die in den zwei Jahren des Waffenstillstands zwischen dem Frühjahr 2013 und dem Sommer 2015 aufgekeimten Hoffnungen auf ein Ende des seit mehr als 30 Jahren andauernden Kurdenkonflikts liegen in Trümmern.

Auch die Situation in Syrien ist einer der Gründe für die Eskalation

Einer der Gründe für die Eskalation liegt jenseits der türkischen Grenze in Syrien. Dort hat der PKK-Ableger PYD vier „Kantone“ kurdischer Autonomie gebildet, zu denen auch das vor einem Jahr gegen eine Belagerung der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) verteidigte Kobane gehört. Von der irakischen Grenze im Osten bis zum Euphrat im Westen reicht die kurdische Zone inzwischen; hinzu kommt noch eine kurdische Enklave weiter westlich bei Afrin.

Ermuntert durch diese Erfolge in Syrien, versuche die PKK nun, die Kantonslösung auf türkisches Gebiet zu übertragen, schrieb der angesehene Kolumnist Murat Yetkin in der „Hürriyet Daily News“. Die kurdischen Rebellen wollten die „Kantons-Erfahrung von Kobane für türkische Städte kopieren“. In Ankara wird die Forderung nach „Kantonen“ und kurdischer Selbstbestimmung als Bedrohung der nationalen Einheit gesehen und bekämpft. Erdogan, der einst als erster türkischer Regierungschef öffentlich von einem Kurdenproblem sprach, sagt heute, es gebe kein Kurdenproblem mehr, sondern nur noch ein Terrorproblem.

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