Nach dem vereitelten Anschlag des IS in Berlin: Die Täter und die Hintermänner
Nach dem vereitelten Anschlag des IS in Berlin laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Was ist über die Terrorpläne bekannt? Wo liegen die Schwachpunkte bei der Überprüfung von Flüchtlingen? Fragen und Antworten zum Thema.
Am Tag nach den Razzien in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen setzt die Berliner Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlung wegen Terrorverdachts fort. „Wir gehen weiterhin davon aus, dass in Berlin ein Anschlag geplant war“, heißt es bei der Behörde. Die in Berlin und dem sauerländischen Attendorn festgenommenen drei Algerier werden vernommen, die Polizei sichtet die bei den Durchsuchungen sichergestellten Materialien, darunter Laptops und Handys. Als Ziel eines Anschlags vermuten Sicherheitskreise weiterhin das Areal des früheren Checkpoint Charlie an der ehemaligen Grenze zur DDR.
Was ist über die Terrorverdächtigen bekannt?
Der Zelle werden fünf Algerier zugerechnet, darunter eine Frau. Dem Bundesamt für Verfassungsschutz wurde über den Hinweis eines ausländischen Nachrichtendienstes bekannt, dass die Terrormiliz "Islamischer Staat" mit einem Mitglied der Gruppe detailliert über den Checkpoint Charlie gesprochen hatte. Bei dem Mann, der von einem IS-Anhänger angerufen wurde, soll es sich um einen der beiden in Berlin lebenden, mutmaßlichen Mitglieder der Zelle handeln.
Der in Attendorn mit seiner Frau in einem Flüchtlingsheim festgenommene, 35 Jahre alte Farid A. scheint jedoch der eigentliche Drahtzieher zu sein.
Es gebe Hinweise, dass Farid A. in Syrien bei einem hochrangigen Funktionär des IS war, der für die Anschläge vom 13. November in Paris mitverantwortlich sei, sagen Sicherheitsexperten. Der Funktionär soll den Anführer des Terrorangriffs in Paris dirigiert haben, Abdelhamid Abaaoud. Der Belgier marokkanischer Herkunft wurde am 18. November in Saint Denis, einer Kleinstadt nördlich von Paris, von der Polizei erschossen. Auf einem Foto soll Farid A. mit dem IS-Funktionär zu sehen sein. Ein weiteres Bild zeige Farid A. mit Waffen auf einem leichenübersäten Schauplatz des syrischen Bürgerkrieges, sagen Sicherheitskreise. Auf dem hier abgebildeten Foto posiert der Dschihadist mit Sturmgewehren vom Typ Ak 47 („Kalaschnikows“) und Handgranaten.
Ein weiteres Mitglied der am Donnerstag ausgehobenen Gruppe, der 26-jährige Algerier Abbas al-I., lebt in einem Flüchtlingsheim bei Hannover. Abbas al-I. soll kürzlich in die belgische Gemeinde Molenbeek gereist sein, sie gilt als Hochburg der militanten Islamistenszene. Aus Molenbeek stammte auch Abdelhamid Abaaoud. Ob Abbas al-I. Kontakt zu ihm hatte, ist offen.
Wie kamen sie nach Deutschland?
Farid A. und seine 27-jährige Frau reisten als Flüchtlinge mutmaßlich über die Balkanroute am 28. Dezember in Bayern ein. Das Paar gab sich mit falschen Namen als Syrer aus und legte manipulierte syrische Pässe vor. Als Aufenthaltsort wurde Farid A. und der Frau eine Unterkunft für Asylbewerber in Attendorn zugewiesen. Die Polizei nahm die beiden dort fest und präsentierte ihnen einen internationalen Haftbefehl aus Algerien. Die Behörden des nordafrikanischen Landes werfen dem Paar vor, dem IS anzugehören. Farid A. soll in Syrien bei der Terrormiliz auch eine paramilitärische Ausbildung durchlaufen haben.
Einer der Verdächtigen in Berlin, der 49 Jahre alte, in der französischen Stadt Nancy geborene Nordine F., kam im Jahr 2000 nach Deutschland. Ein Antrag auf Asyl wurde abgelehnt, dennoch konnte der Mann bleiben. 2013 verließ er die Bundesrepublik und kam laut Polizei ein Jahr später mit falschen französischen Personalien zurück. Beamte nahmen Nordine F. am Donnerstag in der Kreuzberger Waldemarstraße wegen des Verdachts auf Urkundenfälschung fest. Das zweite mutmaßliche Mitglied der Terrorzelle in Berlin, der 30-jährige Fayssal B., ist seit 2004 in Deutschland.
Warum nutzt der IS den Flüchtlingszustrom?
Deutsche und ausländische Nachrichtendienste gingen davon aus, dass der IS es nicht nötig habe, Kämpfer über die riskante Route von der Türkei über Griechenland und den Balkan nach Westeuropa zu schleusen. Das war richtig und falsch zugleich. Die Terrormiliz verfügt über viele europäische Dschihadisten, die mit ihrem legalen Pass in die Heimat zurückkehren und dort behaupten können, sie hätten in der Türkei Urlaub gemacht. Doch im November setzte der IS bei den Anschlägen in Paris auch drei Attentäter ein, die als Flüchtlinge über Griechenland in die EU gekommen waren.
Die Terrormiliz habe damit zwei Absichten verfolgt, sagen Sicherheitsexperten. Dem Westen sollte demonstriert werden, dass der IS in der Lage sei, den Flüchtlingsstrom zu nutzen. Das habe „ein Zeichen der Stärke“ sein sollen, sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, am Dienstag bei den 10. Berliner Sicherheitsgesprächen des Bundes Deutscher Kriminalbeamter.
Andere Sicherheitsexperten vermuten auch, der IS wolle den in Europa weit verbreiteten Unmut über den Zustrom der Flüchtlinge noch schüren. Mit dem zynischen Kalkül, dass rassistische Angriffe auf muslimische Flüchtlinge dem IS neue Anhänger bescheren, die zu Kämpfern und Terroristen ausgebildet werden können. „Die Terrormiliz hofft, von einer Radikalisierung nach rechts in Europa zu profitieren“, sagt ein hochrangiger Experte.
Warum können Dschihadisten so einfach Grenzen überqueren?
Der IS hat bei seinen Angriffen in Syrien eine größere Menge Pässe erbeutet, die das Assad-Regime ausstellen wollte. Einige der Rohlinge nutzt die Terrormiliz nun für den Transfer von Dschihadisten nach Westeuropa. Der IS profitiert dabei auch von der Nachlässigkeit der griechischen Behörden. Die drei Attentäter in Paris, die als vermeintliche Flüchtlinge nach Griechenland kamen, wurden nur unvollkommen überprüft. Obwohl die deutschen Sicherheitsbehörden die Nummern der manipulierten Pässe in die Fahndungsdatei der Schengen-Staaten (Griechenland ist Mitglied) eingegeben hatten, konnten die Terroristen unbehelligt einreisen.
Zwei weitere mutmaßliche IS-Terroristen fischten die Griechen auf der Insel Leros aus den ankommenden Flüchtlingen heraus. Doch es gab keine richtigen Konsequenzen. Die Dschihadisten wurden vor Gericht gestellt, innerhalb von 30 Tagen mussten sie Griechenland verlassen. Die IS-Leute reisten dann weiter in Richtung Österreich. Griechenland hatte es offenbar unterlassen, die EU zu warnen.
Vermutlich sollten sich die beiden im Auftrag des IS an den Anschlägen in Paris beteiligen. Die österreichische Polizei nahm sie nach Hinweisen von Nachrichtendiensten im Dezember in einer Flüchtlingsunterkunft in Salzburg fest. Offenbar hatten die Dschihadisten es nicht mehr geschafft, rechtzeitig nach Paris zu kommen. Das sei nur ein schwacher Trost, sagen Sicherheitskreise. Auch ohne die Teilnahme an dem Terrorangriff in der französischen Hauptstadt seien die Männer extrem gefährlich.
Welche Verbindungen hatten die Attentäter von Paris nach Deutschland?
Anführer Abaaoud hielt sich mindestens zweimal in der Bundesrepublik auf. Die Behörden konnten rekonstruieren, dass Abaaoud 2008 in Köln ein Ausfuhrkennzeichen für ein Fahrzeug beantragt hatte. Und am 20. Januar 2014 kontrollierte die Bundespolizei den Belgier am Flughafen Köln-Bonn. Abaaoud wollte nach Istanbul fliegen, was dann offenbar auch geschah. Der Islamist gab sich harmlos, in der Türkei wollte er angeblich Familienmitglieder und Freunde besuchen.
Es sei nicht auszuschließen, dass Abaaoud Kontakte zur Bonner Salafistenszene unterhielt, sagen Experten. Das Milieu in der Stadt gilt als besonders gefährlich. Von hier zogen schon früh Islamisten ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet, um sich Terrororganisationen anzuschließen. Und im Dezember 2012 legte der islamistische Konvertit Marco G. auf einem Bahnsteig des Hauptbahnhofs Bonn eine Sporttasche mit einer Bombe ab. Dass sie nicht explodierte, war vermutlich ein glücklicher Zufall. Der Verteidiger von Marco G. sagt, die Bombe sei nur eine Attrappe gewesen. Ob sich Abaaoud und Marco G. kannten, ist unklar. Auch die Reisebewegungen Abaaouds in Deutschland sind den Behörden kaum bekannt.
Welche Terrorgefahr geht von Algerien aus?
Wie gefährlich islamistische Terroristen aus Algerien sind, erfuhr die Bundesrepublik schon früh. Im Dezember 2000 nahm die Polizei in Frankfurt am Main eine Gruppe Algerier fest, die den Weihnachtsmarkt in Straßburg angreifen wollten. Die Islamisten hatten den Bau einer größeren Nagelbombe vorbereitet. Ein Anschlag auf dem belebten Weihnachtsmarkt hätte verheerende Folgen gehabt. Die Terrorgefahr in Algerien ist groß.
Nachdem die Armee in den 1990er Jahren den Bürgerkrieg gegen Islamisten gewonnen hatte, kämpften fanatische Gruppen als Terroristen weiter. Die größte war die GSPC, sie entführte 2003 in der Sahara Motorradtouristen aus Deutschland und weiteren Staaten. Drei Jahre später schloss sich die GSPC Al Qaida an. Der IS, dem die am Donnerstag festgenommenen Algerier zugerechnet werden, hat in dem Land inzwischen auch Zellen gebildet. 2014 köpften IS-Terroristen einen französischen Bergsteiger. Mehrere hundert Algerier kämpfen zudem in Syrien für die Terrormiliz.