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In Döbeln starb eine Frau bei einem Kellerbrand, den eine Nachbarin aus rassistischen Motiven gegen einen iranischen Hausbewohner legte. (Symbolbild)
© Lino Mirgeler/dpa

Rechtsextremismus: Die Stille nach dem Brand

Ruth K. starb durch rassistisch motivierte Brandstiftung. Doch sie steht nicht in der offiziellen Statistik – weil ihr Nachbar aus dem Iran das Ziel war.

Döbeln, 1. März 2017. An jenem Mittwochvormittag rasen mehrere Feuerwehrwagen in ein Plattenbauviertel am Rande der sächsischen Kleinstadt. Aus dem Treppenhaus eines fünfstöckigen Hauses in der Albert-Schweitzer-Straße 23 quillt beißender Rauch. Zum wiederholten Male brennt es im Keller. Als sich die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr mit Atemmasken den Weg bahnen, finden sie im Treppenhaus die leblose Ruth K. Die 85-jährige Frau ist die älteste Mieterin im Aufgang, nur wenige Steinstufen trennen ihre Parterrewohnung von der rettenden Haustür. Doch bei dem Versuch zu fliehen, atmet Ruth K. zu viel des giftigen Qualms ein. Einige Wochen später stirbt sie im Krankenhaus an den Folgen der Rauchgasvergiftung.

Ruth K. wurde ein Opfer rassistisch motivierter Gewalt. Wie die Polizei später ermittelte, war der tödliche Brand von einer Nachbarin gelegt worden, die damit einem erst kurz zuvor ins Haus eingezogenen Flüchtling schaden wollte. Die 85-Jährige ist damit das vorerst letzte Opfer in einer sehr langen Liste: Nach Recherchen von Zeit Online und Tagesspiegel sind seit der Wiedervereinigung in Deutschland 169 Menschen von rechtsmotivierten Täterinnen und Tätern umgebracht worden. Die staatlichen Statistiken jedoch weisen lediglich 83 Tote aus, also nicht einmal die Hälfte.

Als Opfer rechtsmotivierter Gewalt mag Ruth K. untypisch sein, weil sie zufällig starb – die meisten Opfer waren Flüchtlinge und andere Menschen mit Migrationshintergrund, Obdachlose, oft auch Menschen, die von Rechtsextremen als politische Gegner angesehen wurden, zum Beispiel Polizisten oder linke Punks. In einem jedoch ist Ruth K. leider typisch: Wie sie tauchen Dutzende Opfer rechtsmotivierter Gewalttaten nicht in den staatlichen Statistiken auf. Das sächsische Landeskriminalamt, das für die Zählung solcher Taten im Freistaat zuständig ist, wertet den Fall lediglich als normale Brandstiftung. Deshalb fehlt Ruth K., wie mindestens 86 weitere Todesopfer rechter Gewalt, in den offiziellen Zahlen.

Viermal wurde im Keller Feuer gelegt

Rückblende: Am 8. März 2016, ziemlich genau ein Jahr vor dem tödlichen Brand, bricht im Keller des Plattenbaus zum ersten Mal ein Feuer aus – genau eine Woche, nachdem in eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im ersten Stock rechts der Iraner Mehdi G. eingezogen ist. Nach Deutschland war der 44-Jährige bereits 1997 gekommen. Damals, mit Anfang 20, hatte er sich in Teheran als Psychologiestudent in der Studentenbewegung für Reformen engagiert und war deshalb nach eigenen Angaben ins Visier des iranischen Geheimdienstes geraten.

Seinen Asylantrag lehnten die deutschen Behörden dennoch ab. Weil ihm im Iran aber – auch wegen seines Asylantrags – ziemlich sicher Verfolgung und Folter drohen, wurde er nicht abgeschoben, sondern lebt seitdem mit einer Duldung in Deutschland. Alle drei bis sechs Monate muss er auf eine Verlängerung hoffen. Sarkastisch nennt sich Mehdi G. selbst den "ältesten geduldeten Asylbewerber Sachsens".

Knapp 15 Jahre hatte Mehdi G. in einer zum Flüchtlingsheim umgebauten ehemaligen NVA-Kaserne in Döbeln gewohnt, einem 24.000-Einwohner-Städtchen zwischen Dresden und Leipzig. All die Jahre hatte er sich ein Zimmer mit anderen Asylbewerbern geteilt. Erst als er unvermittelt von einem islamistischen Heimbewohner bedroht wird, erlaubt ihm die zuständige Ausländerbehörde Freiberg im Frühjahr 2016, aus der Massenunterkunft auszuziehen. "Als ich dann auch noch eine günstige Wohnung in dem ehemaligen Neubauviertel Döbeln-Nord gefunden habe, war ich wirklich glücklich", sagt Mehdi G. Nach mehr als einem Jahrzehnt in Döbeln hat sein Deutsch die weiche Färbung des Sächsischen mit seltenen Einsprengseln seiner iranischen Muttersprache.

Dass seine Antrittsbesuche von den anderen Bewohnern des Zehn-Parteien-Hauses mit misstrauischen Blicken, wenig Sympathie und von einer älteren Nachbarin mit dem Ausruf "Gott steh uns bei" quittiert worden waren, verunsicherte Mehdi G. natürlich. Aber da waren eben auch Deutsche aus dem Kreise derer, die sich in Döbeln wie an vielen anderen Orten seit 2015 um Geflüchtete kümmern. Die ihm beim Renovieren der Wohnung halfen, Hausrat vorbeibrachten – "sogar ein gebrauchtes Schlafzimmer", wie G. sich noch heute freut. Und da war die ältere Dame aus der Parterrewohnung, die ihn "als Einzige aus dem Haus" bei allen Begegnungen freundlich anlächelte und einige Worte mit ihm wechselte.

Als es dann Anfang März 2016 erstmals im Keller seines neuen Zuhauses brennt, ist Mehdi G. gerade bei der Spätschicht: Als Übersetzer für Farsi und Deutsch arbeitete er seit dem Sommer 2015 ehrenamtlich in einem Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge auf einem Industriegelände in Döbeln. Dort suchten ihn Polizeibeamte direkt nach dem Brand auf. "Sie wollten wissen, was ich mit dem Brand zu tun habe", erinnert sich G. Das Feuer war in seinem Kellerverschlag ausgebrochen und hatte fast alle Gegenstände darin zerstört, darunter viele seiner Einzugsgeschenke. Vor allem aber zerstörte es das Glück, endlich ein Zuhause in Deutschland gefunden zu haben.

Auf das erste Feuer folgen innerhalb weniger Monate drei weitere Kellerbrände. Die Auswirkungen sind verheerend: "Wir mussten die Mieter der oberen Stockwerke bei jedem Brand mit Rettungsleitern aus dem Hausaufgang evakuieren", sagt rückblickend ein Sprecher der Döbelner Freiwilligen Feuerwehr. Als es am 15. Oktober 2016 erneut im Keller brennt, bringen die Rettungswagen mehrere Bewohnerinnen des Hauses wegen Verdachts auf Rauchgasvergiftung in Krankenhäuser. Das Treppenhaus ist völlig verkohlt, die Versorgungsleitungen, durch deren Schacht sich der Rauch aus dem Keller im ganzen Haus verbreitet hat, sind komplett zerstört. Mehrere Wochen lang sind die Wohnungen unbewohnbar; die Mieterinnen und Mieter kommen notdürftig in Hotels, Gartenlauben oder bei Verwandten unter.

Für die Brände wird der Flüchtling verantwortlich gemacht

Besonders verheerend jedoch sind die Folgen für Mehdi G.: Nach jedem Brand hätten die anderen Hausbewohner auf ihn gezeigt, berichtet er. "Sie haben mir offen ins Gesicht gesagt: 'Seitdem Du hier wohnst, herrscht Unfriede im Haus.' Vorher sei alles ruhig gewesen." Bei einem der Feuerwehreinsätze musste ein Polizeibeamter einen aufgebrachten Hausbewohner davon abhalten, mit einer Bierflasche auf Mehdi G. loszugehen, der wie alle anderen fassungslos aus sicherer Entfernung auf die Zerstörung starrte. Ihn hatte die Nachricht von dem erneuten Brand bei einer Essenseinladung in der Wohnung eines deutschen Bekannten überrascht.

Eine Rentnerin, die direkt über Mehdi G. wohnt und schon seinen Einzug misstrauisch kommentiert hat, gehört zu denjenigen, die die Stimmung gegen ihn – auch bei den Ermittlungsbehörden und bei der Wohnungsbaugesellschaft – anheizen. Unter anderem erzählte sie den Nachbarn und der Polizei von angeblichen Drohbriefen und Unbekannten, die sie im Hausflur attackiert hätten. Die Polizei und die örtlichen Medien berichten daraufhin, gesucht werde ein "Täter südländischen Aussehens mit kurzen lockigen Haaren".

Dann, am 1. März 2017, das verhängnisvolle Feuer, das Ruth K. das Leben kostet. Aus der Fahndung nach einer Person, die für die Brände verantwortlich ist, werden nun Ermittlungen wegen eines Tötungsdelikts. Mit richterlicher Erlaubnis hört die Polizei die Telefonanschlüsse aller Hausbewohner ab – und verhaftet schließlich im Mai 2017 die 70-jährige Nachbarin Gisela B. als mutmaßliche Täterin.

Im folgenden Prozess am Landgericht Chemnitz wirft ihr die Staatsanwaltschaft vor, viermal aus "Ausländerhass" einen vorsätzlichen Brand im eigenen Haus gelegt zu haben. Die Anklage umfasst mehrfache schwere Brandstiftung, Brandstiftung mit Todesfolge und Vortäuschung von Straftaten. Gisela B. bestreitet die Vorwürfe, im Prozess schweigt sie. Aufgrund von DNA-Spuren, Schriftgutachten und abgehörten Telefonaten von Gisela B., die die Staatsanwaltschaft als Schuldeingeständnis wertet, beantragt sie eine Gefängnisstrafe von dreizehneinhalb Jahren. Am Ende des Indizienprozesses im April 2018 lautet das Urteil der Schwurgerichtskammer am Landgericht Chemnitz: neun Jahre Haft. Die Verteidigung hat Revision gegen das Urteil eingelegt, die Bitte um ein Interview zu dem Fall lehnte sie ab.

Auch wenn Ruth K. nicht das eigentliche Ziel der Brandstiftungen war – sie fiel doch einer offensichtlich rassistisch motivierten Tat zum Opfer. Deshalb haben Zeit Online und Tagesspiegel sie auch als eines von 169 Todesopfern rechtsmotivierter Gewalt seit 1990 in ihre Liste aufgenommen. In der offiziellen Statistik zum Thema jedoch taucht Ruth K. nicht auf. Als die Bundesregierung im Juni 2018 eine Bundestagsanfrage der Linken-Abgeordneten Petra Pau beantwortete, nannte sie lediglich 83 Todesopfer seit der Wiedervereinigung – und Ruth K. war nicht darunter. 

Weil die bundesweite Zählung lediglich Statistiken aus den Bundesländern zusammenfasst, liegt die Verantwortung hierfür in Sachsen. Von dort ist für das Jahr 2017 kein Todesopfer rechtsmotivierter Gewalt gemeldet worden. Auf Nachfragen verweisen die Pressestellen des Landeskriminalamtes und des Innenministeriums an die Pressestelle der Polizeidirektion Chemnitz, die bei den Ermittlungen federführend war. Auch dort gilt Ruth K. lediglich als Opfer einer glücklicherweise aufgeklärten Brandstiftung mit Todesfolge. Dass die Täterin eine rassistische Motivation hatte und der Fall deshalb laut den bundesweiten Kriterien für politisch motivierte Taten als solche gewertet werden müsste, weist die Pressestelle zurück. 

Ganz anders hingegen – und in Übereinstimmung mit ZEIT ONLINE und Tagesspiegel – bewertet die Generalstaatsanwaltschaft Dresden den Fall. Sie folgt damit der Chemnitzer Staatsanwaltschaft, die im Prozess gegen Gisela B. die Anklage vertreten hatte. Ausschlaggebend für die Einstufung als politisch motiviertes Gewaltdelikt, sagt Wolfgang Klein als Sprecher der Dresdner Generalstaatsanwaltschaft, sei die unzweifelhafte Tatmotivation "Ausländerhass".

"Wirklich Sicherheit gibt es hier ohnehin nicht"

Im Spätsommer 2018, mehr als ein Jahr nach dem Tod von Ruth K., erinnert nichts an dem in weiß-beige sanierten Hausaufgang der Albert-Schweitzer-Straße 23 in Döbeln an die Brandserie. Einige der von den Bränden betroffenen Mieterinnen sind längst ausgezogen. Im Haus will niemand mehr darüber sprechen. Bei der Freiwilligen Feuerwehr hingegen erinnert man sich: "Das vergisst man nicht, wenn ein Mensch nach einem Einsatz stirbt."

Mehdi G. sagt, er könne sich erst wieder sicher fühlen, wenn der Bundesgerichtshof, der über den Revisionsantrag von Gisela B. und ihrem Verteidiger zu entscheiden hat, das Urteil gegen die Rentnerin bestätige. Obwohl, schiebt er nach: "Wirklich Sicherheit gibt es hier ohnehin nicht." Sein Traum sei es, doch noch ein Zuhause in Deutschland zu finden – ohne schweißgebadet aufzuwachen, wenn er nachts eine Feuerwehrsirene hört, und ohne eine noch immer drohende Abschiebung in den Iran zu fürchten. Ein Arbeitsangebot vom DRK-Landesverband hat er längst – doch als lediglich geduldeter Flüchtling hat er auch nach mehr als einem Jahrzehnt in Sachsen noch keine Arbeitserlaubnis.

Immer wieder betont Mehdi G., wie froh er sei, dass die Polizei so gründlich ermittelt habe. Als Übersetzer vermittele er gerade Neuankömmlingen aus Afghanistan oder Syrien, dass in Deutschland drei Dinge wichtig seien: "Die Sprache zu lernen, die Gesetze zu befolgen und den Anordnungen der Polizei zu gehorchen – weil sie den Behörden in Deutschland, anders als in den Herkunftsländern, vertrauen können." Dieses Vertrauen, sagt Mehdi G., habe ihn durch die Schrecken der Brandnächte und die langen Monate der Verdächtigungen getragen. Jetzt, sagt Mehdi G. sehr müde, wünsche er sich vor allem, dass die Erinnerung an Ruth K. nicht verblasse. Um ihren Tod sei es so seltsam still geblieben in der Stadt, in der doch sonst jeder jeden kenne.

Gemeinsam mit unserem Redakteur Frank Jansen betreut Heike Kleffner als freie Journalistin das Langzeitrechercheprojekt „Todesopfer rechter Gewalt“ seit dessen Erstveröffentlichung im Tagesspiegel im September 2000. Seit April 2018 arbeitet sie auch als Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG).

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