Rechtsextremismus in Deutschland: Von 169 Todesopfern rechter Gewalt werden nur 83 offiziell genannt
Viele mutmaßlich rechte Tötungen werden als unpolitisch gewertet. Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt haben Altfälle geprüft – mit erstaunlichem Resultat.
Sie wurden erschlagen, erstochen, verbrannt, erschossen, ertränkt, zu Tode getrampelt. 169 Menschen haben in Deutschland seit der Wiedervereinigung die Angriffe von Neonazis und anderen Rechten nicht überlebt. Weitere Verdachtsfälle mit 61 Toten kommen hinzu. Das ist das aktuelle Resultat einer im Jahr 2000 gestarteten Langzeitrecherche des Tagesspiegels mit anderen Zeitungen und jetzt mit „Zeit Online“ zu Todesopfern rechter Gewalt. Auf dieser Seite stehen die Fälle, die seit der letzten Veröffentlichung 2013 bekannt wurden. Das betrifft auch lange zurückliegende Taten.
Die Zahl der Toten, die die Bundesregierung zuletzt im Juni genannt hat, ist deutlich niedriger. Die Statistik zeige „76 vollendete rechts motivierte Tötungsdelikte mit 83 Todesopfern seit 1990“, teilte Stephan Mayer, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, in der Antwort auf eine Kleine Anfrage von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau und ihrer Linksfraktion mit. Im Blick auf die vergangenen drei Jahre meldet die Bundesregierung ein einziges Todesopfer rechtsmotivierter Gewalt – den Polizisten Daniel E., der 2016 im bayerischen Georgensgmünd von einem Anhänger der sogenannten Reichsbürger-Szene erschossen wurde. Tatsächlich jedoch sind laut Tagesspiegel seit 2015 mindestens elf weitere Personen durch rechtsmotivierte Gewalt ums Leben gekommen. Die Regierung bezieht sich auf die Angaben der Polizei in den Ländern. Dort gibt es bei der Erfassung mutmaßlich rechter Tötungsdelikte allerdings beträchtliche Unterschiede.
Anhand der Tagesspiegel-Liste geprüft
Die meisten Länder stufen nur zögerlich mutmaßlich rassistische und andere rechte Angriffe, bei denen Menschen sterben, als politisch motiviert ein. Drei Länder haben allerdings ihre alten, erkennbar mangelhaften Statistiken zu Todesopfern rechter Gewalt anhand der Liste des Tagesspiegels und der Erkenntnisse von Opferberatungsstellen systematisch überprüft. Die Ergebnisse waren frappierend.
Sachsen-Anhalt im Jahr 2012, Brandenburg 2015 und zuletzt Berlin im Mai 2018 haben insgesamt 18 Altfälle mit 19 Toten nachträglich als rechts motivierte Verbrechen gewertet. Anlass für die Überprüfung war das republikweite Entsetzen über die Morde des NSU. Bis zum Ende der Terrorzelle im November 2011 hatten die Sicherheitsbehörden, aber auch die Medien die tödlichen Schüsse von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos auf neun Migranten und eine Polizistin als unpolitisch bewertet und sogar vermutet, die meisten Opfer seien wegen krimineller Aktivitäten mitverantwortlich für den eigenen Tod. Nach dem NSU-Schock erkannten die Innenminister von Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin die Notwendigkeit, die eigenen Polizeistatistiken auf Fehler bei der Einstufung womöglich doch rechts motivierter Tötungsdelikte zu untersuchen.
Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) veranlasste Landeskriminalamt und Generalstaatsanwaltschaft, Fälle aus der Tagesspiegel-Liste zu sichten. Brandenburg und Berlin beauftragten auch Wissenschaftler. Sie durchleuchteten mit Polizei und Justiz die Statistiken. In Brandenburg erarbeitete das Moses-Mendelssohn-Institut der Universität Potsdam eine Analyse, in Berlin das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der Technischen Universität. Thüringen wird vermutlich nachziehen. Ende September berät der Landtag über einen Antrag der Fraktionen der rot-rot-grünen Koalition, mit wissenschaftlicher Hilfe Altfälle zu prüfen. Die Studien haben Einfluss auf die Recherchen des Tagesspiegels. Einige Altfälle wurden aus der eigenen Liste gestrichen, weil sich die Annahme eines rechten Motivs der Täter doch nicht erhärten ließ. Andererseits haben die Analysen der drei Länder den Verdacht gestärkt, Polizei und Justiz hätten Probleme, bei rechter Gewalt das Motiv zu erkennen.
Die Kluft zwischen Tagesspiegel-Zahlen und Polizeistatistiken
Der Tagesspiegel selbst unterscheidet zwischen Fällen, die auf Basis der eigenen Recherchen als „sicher“ rechts motiviert eingestuft werden, und „Verdachtsfällen“, in denen ein politisches Tatmotiv zumindest denkbar erscheint. Zentraler Maßstab ist die polizeiliche Definition „Politisch motivierte Kriminalität“, ergänzt durch zwei neue Kriterien des ZfA. Wie schwierig die Einstufung sein kann, zeigt sich beispielhaft anhand eines Verbrechens in Berlin.
Am 20. September 2015 erschießt der 62-jährige Rolf Z. in Berlin den Briten Luke Holland. Das 31 Jahre alte Opfer telefoniert auf dem Gehweg vor einer Bar, als Z. ein Schrotgewehr aus nächster Nähe abfeuert und Holland tötet. Im Prozess am Landgericht wird versucht, das Verbrechen und die Motivation des Täters zu rekonstruieren. Rolf Z. hortete in seiner Wohnung Schusswaffen, Munition und Schwarzpulver – in einem Zimmer, das er mit Hitler-Bildern, einer Hitler-Büste und CDs von Neonazi-Bands ausstaffiert hatte. Zeugen sagen aus, Z. habe sich beschwert, in der Kneipe werde nach einem Besitzerwechsel „nur noch Englisch und Spanisch“ gesprochen. Im Prozess sagt Z. nichts. Das Gericht verurteilt ihn 2016 zu elf Jahren und sieben Monaten Haft, verneint aber ein rechtsextremes oder fremdenfeindliches Motiv. Letztlich stuft der Tagesspiegel den Mord an Luke Holland als Verdachtsfall ein. Das Schweigen des Angeklagten und Lücken in den Ermittlungen lassen trotz der Indizien für ein rechtes Motiv keine Gewissheit zu.
Die Kluft zwischen den Ergebnissen der jahrelangen Recherchen des Tagesspiegels und den Zahlen der Polizei wird sich vermutlich auf absehbare Zeit nicht schließen lassen. In vielen Bundesländern fehlt der politische Wille, Altfälle zu prüfen und zuzugeben, die Behörden könnten ein rechtes Tatmotiv nicht angemessen wahrgenommen haben. So bleibt auch ein besonders grausiges Verbrechen offenbar noch lange falsch bewertet.
Am 7. Oktober 2003 erschießt der Neonazi Thomas A. in Overath (bei Köln) einen Anwalt, die Ehefrau und die Tochter. Nach der Tat entwirft A. ein Flugblatt, in dem er seine Tat als Beginn der „Befreiung des Reichsgebietes“ bezeichnet. Das Landgericht Köln verurteilt den Mörder 2004 zu lebenslanger Haft plus Sicherungsverwahrung. Die Richter bescheinigen A., seine nationalsozialistische Gesinnung habe ihm „ein Handeln mit Härte, Entschlossenheit und ungerührtem Vollstreckerwillen“ ermöglicht. Doch die Polizei in Nordrhein-Westfalen sieht bis heute keine rechtsextreme Tat.
Polizeiliche Definition "politisch motivierter Kriminalität"
Seit 2017 verwendet das BKA folgende polizeiliche Definition „politisch motivierter Kriminalität“: Es werden Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie (...) gegen eine Person wegen ihrer/ihres zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status physischen und/oder psychischen Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung und/oder sexuellen Identität oder äußeren Erscheinungsbildes, gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet.“ (1) Bei der Würdigung der Umstände der Tat ist neben anderen Aspekten auch die Sicht der/des Betroffenen mit einzubeziehen.
Das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) in Berlin sieht auch eine politische Tat, wenn typisch rechte Verrohung zu erkennen ist. Das ZfA spricht vom „Ausdruck einer durch die Zugehörigkeit zur rechtsextremen Szene habitualisierten Gewaltbereitschaft und Feindseligkeit“.
Transparenzhinweis:
Gemeinsam mit unserem Redakteur Frank Jansen betreut Heike Kleffner als freie Journalistin das Langzeitrechercheprojekt „Todesopfer rechter Gewalt“ seit dessen Erstveröffentlichung im Tagesspiegel im September 2000. Seit April 2018 arbeitet sie auch als Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG).