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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
© Umit Bektas/REUTERS

Nur noch 15.000 Neuinfektionen in der Türkei?: „Die Regierung lügt sich selbst in die Tasche“

Die Türkei meldet kurz vor der Feriensaison einen starken Rückgang der Corona-Zahlen. Aber: Das liegt an weniger Tests - meinen Ärzte und Oppositionspolitiker.

Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Ende April einen neuen Corona-Lockdown für sein Land verkündete, setzte er klare Zielvorgaben. Die Zahl der Neuinfektionen pro Tag müsse bis Mitte Mai unter 5000 sinken, sagte Erdogan – damals waren es mehr als 60.000 Fälle pro Tag.

Die Türkei könnte sonst im Tourismus den Anschluss verlieren, warnte Erdogan. Keine zwei Wochen nach Beginn des Lockdowns meldet seine Regierung jetzt einen sensationellen Rückgang der Corona-Fälle auf weniger als 15.000 am Tag. Ankara feiert dies als Erfolg der Ausgangssperren, doch Ärzte und Oppositionspolitiker argwöhnen, dass die Zahlen geschönt sind.

Es wäre nicht das erste Mal. Den amtlichen Angaben zufolge erlebt das ganze Land eine unglaubliche Erholung. In der Metropole Istanbul waren Mitte April noch mehr als 900 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen gemessen worden – inzwischen liegt die Inzidenz bei 360.

Die Urlaubsregion um Antalya steht demnach mit einer Inzidenz von 130 besser da als manche deutsche Bundesländer. Unter dem Lockdown müssen die Bürger rund um die Uhr zu Hause bleiben und dürfen nur auf die Straße, um einzukaufen, den Hund Gassi zu führen oder zum Arzt zu gehen.

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Restaurants, Bars und die meisten Geschäfte sind geschlossen, innertürkische Reisen stark eingeschränkt. Allerdings gelten so viele Ausnahmen von den Ausgangssperren, dass Regierungskritiker den Sinn der Maßnahmen in Frage stellen. So geht die Arbeit auf Baustellen und in Fabriken weiter.

Nach Gewerkschaftsangaben müssen 22 Millionen Menschen – das sind 61 Prozent aller Beschäftigten – trotz des Lockdowns zu Arbeit. Die Impfkampagne hat wegen Nachschubproblemen an Schwung verloren. In der Türkei haben bisher rund 25 Millionen Menschen mindestens eine Impfung erhalten. In Deutschland, einem Land mit vergleichbarer Einwohnerzahl, sind es zehn Millionen mehr.

Experten glauben deshalb nicht, dass der Lockdown die Infektionszahlen so reduzieren kann wie von Erdogan vorgegeben. Zwar hat der Druck auf Krankenhäuser und Intensivstationen nachgelassen, weil ältere Menschen dank der Impfungen seltener krank werden. Doch bis zum Ende der Ausgangssperre am 17. Mai könne die von Erdogan vorgegebene Größenordnung von 5000 Fällen am Tag nicht erreicht werden, sagte der Arzt Zafer Kurugöl der Zeitung „Milliyet“.

Nur 215.000 Corona-Tests pro Tag

Andere argwöhnen, der starke Rückgang der Neuinfektionen in den vergangenen Wochen habe sich ohnehin nur in den amtlichen Statistiken abgespielt. Glaube man den offiziellen Zahlen, verzeichne die Türkei eine weltweit einzigartige Verbesserung bei den Corona-Fällen, schrieb der Mediziner Ahmet Altik von der Universität Ankara auf Twitter.

Außer für Touristen gilt in der Türkei eine strenge Ausgangssperre.
Außer für Touristen gilt in der Türkei eine strenge Ausgangssperre.
© Susanne Güsten

Im Fernsehsender Tele1 fügte er hinzu: „Die Regierung lügt sich selbst in die Tasche.“ Kritiker wie Altik verweisen darauf, dass in der Türkei immer weniger getestet wird, weshalb weniger Fälle entdeckt würden. Mitte April meldeten die Behörden fast 320.000 Corona-Tests pro Tag – inzwischen sind es weniger als 215.000.

„Die Absicht dahinter ist klar“, kommentierte der Oppositionspolitiker Murat Emir: „Wenige Tests ergeben wenige Fälle.“ Die Regierung weist dies zurück. Gesundheitsminister Fahrettin Koca sagte, die sinkende Zahl von Tests sei nicht der Grund für den Rückgang der Fälle, sondern eine Folge der guten Entwicklung.

Das Problem für Koca ist, dass er im Verlauf der Pandemie viel Glaubwürdigkeit verspielt hat. Im vergangenen Sommer änderte er die offizielle Corona-Zählmethode, um die Fallzahlen künstlich niedrig zu halten. Eine starke Verbesserung der Lage ist für die Türkei wichtig, um Urlauber aus Europa anzuziehen. Russland hat Ferienflüge in die Türkei vorerst gestoppt, und auch Großbritannien hat das Land auf eine Rote Liste besonders schwer betroffener Staaten gesetzt.

Die Türkei ist auf die Touristen angewiesen

Nun ruhen die Hoffnungen auf Urlaubern aus der EU. Außenminister Mevlüt Cavusoglu versicherte vorige Woche bei einem Besuch in Berlin, alle Menschen, mit denen deutsche Urlauber in der Türkei in Kontakt kommen könnten, würden geimpft. Die Türkei steckt in einer schweren Wirtschaftskrise und braucht dringend Devisen.

Im vergangenen Jahr sanken die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr wegen der Pandemie im Vergleich zum Vorjahr um 65 Prozent auf rund zwölf Milliarden Dollar; nur 16 Millionen Urlauber kamen 2020 in die Türkei.

In diesem Jahr hoffe er auf eine Verdopplung der Besucherzahl, sagte Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy der Nachrichtenagentur Reuters. Die Türkei wolle am 1. Juni die Urlaubssaison eröffnen, betonte der Minister. Bis dahin müsse die Zahl der Neuinfektionen unter die Marke von 5000 sinken.

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