Exil-Journalisten zum Tag der Pressefreiheit: „Als Terrorist deklariert zu werden ist in der türkischen Republik inzwischen normal“
In der Türkei werden oppositionelle Journalisten und Bürger als Terroristen bezeichnet – manche sind stolz darauf.
"Terror“ und „Terrorismus“ sind Wörter, die überall in der Welt ähnliche Assoziationen auslösen. In der Türkei allerdings hat sich die Bedeutung dieser Wörter leider verschoben. Denn jeder Schritt, jede Kritik der Opposition wird in der Türkei als „terroristische Propaganda“ bezeichnet. Deswegen würden Oppositionelle sogar echte Terroranschläge nicht mehr als Terroranschlag bezeichnen, weil sie selbst so oft Terroristen genannt werden.
Auch einfache Bürger:innen werden des "Terrorismus" beschuldigt
Die herrschende Macht in der Türkei beschuldigt erst die Journalist:innen und Politiker:innen und dann auch einfache Bürger:innen, dass sie mit ihren Worten angeblich Propaganda für eine terroristische Organisation machen bzw. einer terroristischen Organisation helfen.
Zuerst werden die Oppositionellen in regierungsnahen Medien quasi öffentlich vorverurteilt, und wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, werden sie festgenommen und in Gefängnisse gebracht. Die Regierung, die die Vorverurteilung durch die Medien herbeigeführt hat, gibt dann eine quasi-demokratische, scheinbar neutrale Erklärung zu den Verhaftungen ab. Sie sagt: „Die Justiz ist unabhängig, wir werden den Gerichtsprozess verfolgen.“
Wenn die Hälfte der Bevölkerung als Terroristen bezeichnet werden, stimmt etwas nicht
Als Terrorist deklariert zu werden ist in der türkischen Republik inzwischen normal. Niemand versucht mehr zu widersprechen und zu sagen: „Oh nein, ich bin kein Terrorist!“ Viele Menschen, die von der Regierung zu Terroristen erklärt wurden, tragen diese Bezeichnung sogar als Ehrentitel. Ich kenne Menschen in Berlin, denen in der Türkei ein Prozess wegen „terroristischer Propaganda“ gemacht wird. Wenn sie mir sagen, „ich habe einen Propagandaprozess“, würde ich nie fragen: „Was, bist du wirklich ein Terrorist?“ Denn wir haben uns daran gewöhnt. Wenn die Hälfte der Bevölkerung als Terroristen bezeichnet wird, stimmt etwas nicht.
Ich wollte ein Interview mit einem türkischen Professor führen, der sich auf Journalismus spezialisiert hat. Aber als ich ihm das Thema Pressefreiheit nannte, lehnte er mit folgender Begründung ab: „Dieses Problem betrifft nicht nur Journalisten. Auch ganz normale Bürger:innen werden wegen ,Terrorismus’ angeklagt.“ Es stimmt: Wenn einfache Bürger:innen als Terrorist:innen bezeichnet werden, dürfen wir nicht nur über Pressefreiheit, wir müssen über Menschenrechte reden.
Die Türkei steht auf Platz 153 in der Rangliste
Menschen werden in Gefängnissen in der Türkei gefoltert, nackt untersucht, von Soldaten in ihrem Dorf festgenommen. Reporter Ohne Grenzen listet die Türkei in der Rangliste der Pressefreiheit 2021 auf Platz 153 von 180 Ländern. Natürlich muss die Presse frei sein. Aber die Pressefreiheit ist nicht mehr das wichtigste Thema. Früher wurden Journalisten verhaftet, keine Abgeordneten. Jetzt wird jeder verhaftet. Klingt vielleicht übertrieben, ist aber die Wahrheit. Studenten der Bogaziçi-Universität wurden wegen „terroristischer Propaganda“ verurteilt, weil sie gegen den von Recep Tayyip Erdogan eingesetzten Rektor protestiert haben. Wer bleibt noch in diesem Land, der nicht zum Terroristen erklärt wurde?
Die Leute gewöhnen sich an "Terroristen" als Nachbarn
Ohne Hoffnung ist die türkische Bevölkerung aber nicht. Bei der Landtagswahl haben die AKP und MHP wichtige Städte wie Istanbul, Ankara, Antalya, Adana und Mersin verloren. Alle, die Demokratie und Freiheit in der Türkei wollen, arbeiten weiter daran. Die herrschende Macht in der Türkei, die mich und viele andere ins Exil gezwungen hat, hat immer noch nicht geschafft, die Antidemokratie in der Gesellschaft für normal zu erklären. Im Gegenteil, die Leute gewöhnen sich daran, terroristische Nachbar:innen zu haben. Das Wort Terrorist hat einen neuen Klang bekommen.
Dieser Text erscheint im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Stimmen des Exils" von Tagesspiegel und Körber Stiftung. Der Tagesspiegel hat seit 2016 regelmäßig Texte von Exiljournalist:innen unter dem Titel #jetztschreibenwir veröffentlicht. Die Körber-Stiftung führt Programme durch, mit denen die journalistischen, künstlerischen und politischen Aktivitäten exilierter Menschen in Deutschland gestärkt werden. Dazu zählen Kooperationen mit den Nachrichtenplattformen "Amal, Berlin!" und "Amal, Hamburg!" Weitere Formate sind das "Exile Media Forum", die "Tage des Exils" und "Exil heute".