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Bundeskanzlerin Angela Merkel hat angeblich einen Kompromiss mit Ungarns Regierungschef Viktor Orban (rechts) und Polens Regierung im Streit um die Rechtsstaat-Prüfung bei der Vergabe von EU-Mitteln geschlossen. Doch ob die Coronahilfe der EU bald fließt, ist unklar.
© dpa
Update

EU-Hilfen als unsicheres Prestigeobjekt: Die Politik nach der Pippi-Langstrumpf-Devise ist riskant

Die EU einigt sich mit Polen und Ungarn. Das ist kein Grund zum Aufatmen. Die Konstruktion der EU-Coronahilfe könnte vor Gericht scheitern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Europa würde gerne aufatmen. Das drohende Veto Polens und Ungarns gegen das Finanzpaket der EU ist abgewendet. Das heißt: Politisch steht der Coronahilfe nichts mehr im Weg. Die EU wagt den Einstieg in einen solidarischen Finanzausgleich mit Summen, die ihr noch nie zur Verfügung standen, und bringt Europa zugleich bei Digitalisierung und Klimaschutz voran.

Doch für Aufatmen ist es zu früh. Erstens hat die EU einen Preis an Polen und Ungarn für deren Einlenken zahlt. Die Rechtsstaat-Prüfung, von der die Auszahlung der EU-Gelder abhängen soll, wird de facto erstmal nicht stattfinden. Es kann ein, zwei Jahre dauern, bis der Europäische Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit entscheidet.

Zweitens wiegen die rechtlichen Einwände gegen das Finanzpaket schwer. Es ist gut möglich, dass Gerichte es stoppen. Denn die Politik hat nach Pippi Langstrumpfs Devise gehandelt. „Zwei mal drei macht vier, widdewiddewitt, und drei macht neune! Ich mach' mir die Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt.“

Europapolitiker ignorieren den Rat der Wissenschaft

Wenn Pippi Langstrumpf das singt, ist das hochsympathisch. Wenn die Politik so verfährt, ist es hochriskant.

Weder Viren noch die Rechtsordnung richten sich nach Wunschvorstellungen. Regierungen tun gut daran, sich krisenfest zu informieren, was geht und was nicht, wenn sie eine Pandemie bekämpfen oder ein Hilfspaket schnüren, um den Bürgern beim ökonomischen Überleben zu helfen. Die Coronahilfen sind das Prestigeprojekt der EU. Sie will beweisen, dass das gemeinsame Europa in Notlagen stärker ist als die Nationalstaaten.

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Europarechtler warnen jedoch, die Konstruktion des Finanzpakets verstoße gegen geltendes Recht. Auch der Bundestag, der wie alle nationalen Parlamente zustimmen muss, müsse seinen Umgang mit den EU-Hilfen ändern; sonst droht ein Veto der Verfassungsrichter.

Diese Einwände kommen nicht von EU-Skeptikern. Sie richten sich nicht gegen die gute Absicht. Sie mahnen lediglich: Wenn ihr hunderte Milliarden Euro, die nicht vorhanden sind, sondern aus Krediten kommen und später zurückgezahlt werden müssen, unter den EU-Staaten verteilen wollt, müsst ihr das auf eine solide Rechtsbasis stellen.

Der Ruf nach Solidarität klingt gut, doch wer will Solidarhaftung?

Eigentlich müssten die EU-Staaten einen Vertrag über diese neue Art Finanzausgleich schließen. Und der Bundestag müsste mit Zweidrittelmehrheit zustimmen, nicht nur mit einfacher Mehrheit.

Warum reagieren die EU-Spitzen auf solche Einwände nicht öffentlich? Wenn dieses große Prestigeprojekt über handwerkliche Fehler kippt, wäre der Schaden riesig. Die Politiker agieren wie Pippi Langstrumpf, weil sie fürchten, dass ihre Völker Lippenbekenntnisse zu mehr Solidarität mittragen, nicht aber den Umbau der bisher noch recht losen politischen Union zu einer wahren Solidargemeinschaft. Einem EU-Vertrag über die gewünschte Finanzsolidarität würden nicht alle Parlamente zustimmen.

Ob Coronahilfen, gemeinsame Bekämpfung der Pandemie, Migration oder Flüchtlingsverteilung: Bei einigen Aufgaben verlangen viele mehr Solidarität in Europa. Doch die Kompetenzen dafür liegen nach heutigem Recht nicht bei der EU, sondern bei den Nationalstaaten. Wenn Politiker etwas zum angeblichen Wohl der Bürger wollen, was sie rechtlich nicht dürfen, und wenn sie sich auch nicht trauen, die rechtlichen Grundlagen zu ändern aus Sorge, dass die Bürger und ihre Vertreter in den Parlamenten das nicht mitmachen, dann ist diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit ziemlich Besorgnis erregend.

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