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Palästinenser protestieren im Gazastreifen gegen das Abkommen zwischen Israel und den Arabischen Emiraten.
© imago images/UPI Photo

Israel und der Nahe Osten bleiben in der Klemme: Die Palästinenser lösen sich nicht in Luft auf!

Trotz zwei neuer arabisch-israelischer Friedensverträge gilt weiterhin: Ohne eigenen Staat müssten die Palästinenser Bürger Israels werden. Ein Gastbeitrag.

- Shimon Stein war Israels Botschafter in Deutschland (2001-2007) und ist Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheitstudien (INSS) an der Tel Aviv Universität. Moshe Zimmermann ist Professor emeritus an der Hebräischen Universität in Jerusalem

Der Satz, den der sowjetische Präsident Michael Gorbatschow vor 31 Jahren an Erich Honecker und die Bürger der DDR richtete, könnte heute an die Palästinenser und ihre politischen Führer gerichtet werden: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.

Denn sie haben den Wandel der Kräftebalance im Nahen und Mittleren Osten verschlafen. Und ihre Reaktion auf den Weckruf durch die von US-Präsident Donald Trump orchestrierte Friedensvereinbarung zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) sowie mit Bahrain zeigt deutlich: Sie haben den Wandel noch immer nicht zeitgemäß eingeordnet.

Es war der Eckstein ihrer Politik und ihrer Hoffnung, dass es keinen Frieden zwischen Israel und den arabischen Staaten ohne eine Lösung der Palästinafrage im Sinne der Zweistaaten-Lösung geben wird. Aber der ist jetzt passé.

Dies hat sich angedeutet, seit es der israelische Premier Benjamin Netanjahu 2014 geschafft hat, die unter der Ägide von US-Präsident Barak Obama laufenden Friedensverhandlungen in die Sackgasse zu dirigieren, indem er als Vorbedingung für jede Vereinbarung die Anerkennung Israels als Nationalstaat des jüdischen Volkes (was immer auch das zu bedeuten hat) verlangte.

Seither konnte er die schleichenden Annexion der palästinensischen Gebiete ungehindert fortsetzen. Die sture Haltung der palästinensischen Unterhändler, die Spaltung der palästinensischen Front zwischen Fatah (Westbank) und Hamas (Gaza-Streifen), aber vor allem die Rolle Irans in der Region verhinderten, dass die Palästinenser sich aus der Falle befreien konnten und ermöglichten Trump und Netanjahu die Auflösung des jahrzehntelangen Konsenses in der arabischen Welt.

Zunächst schien es ein Gewinn für die Palästinenser zu sein, als sich Iran nach und nach zur Speerspitze des Kampfes gegen Israel entwickelte. Insbesondere als deutlich wurde, dass das Oslo-Abkommen von 1993 gescheitert war. Doch die Palästinenser haben sich verkalkuliert: Die von Iran auch mit Waffen unterstützten Organisationen Hisbollah (Libanon), Hamas und islamischer Dschihad (Gaza-Streifen) entwickelten sich zwar zu einer ernsten Bedrohung für Israel, lösten aber gleichzeitig eine große tektonische Verschiebung in der gesamten Region aus.

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Iran positionierte sich als ernste Bedrohung nicht nur für Israel, auch seine arabischen Nachbarn fühlten sich zunehmend bedroht. Angesichts der hegemonialen Ansprüche der regionalen Großmächte Iran und Türkei haben die pro-westlichen arabischen Staaten ihre Prioritäten neu gesetzt. Das Ergebnis: Der Kampf gegen Israel und die Unterstützung für die Palästinenser rückte in den Hintergrund.

Für die Emirate, die geographisch weit weg von Israel, aber nah am Iran liegen, war das Abkommen mit Israel ein kluger Schachzug: Mit ihm können sich die Emirate nicht nur an die Spitze der sunnitischen pro-amerikanischen Achse stellen, sondern sich durch ihren Kontakt zu Israel auch eine Rückversicherung für eine andauernde amerikanischen Präsenz in der Region verschaffen.

Frieden mit Israel war seit 1979 kein Tabu mehr

Da für diese Golfstaaten die USA die Sicherheitsgarantie gegen die zwei regionalen Großmächte sind, und da sich Amerika unter Präsident Donald Trump militärisch aus der Region zurückziehen möchte, ist ein „Deal“, der ihnen zudem großzügige Waffenlieferungen verspricht, die bessere Taktik – auch um den Preis einer Vereinbarung mit Israel. Da bereits zwei arabische Staaten, Ägypten und Jordanien, 1979 und 1995 Frieden mit Israel geschlossen hatten, konnte von Tabu ohnehin keine Rede mehr sein.

Die Unterzeichnung der Friedensverträge zwischen Israel und den VAE und Bahrain fand am 15. September im Weißen Haus statt.
Die Unterzeichnung der Friedensverträge zwischen Israel und den VAE und Bahrain fand am 15. September im Weißen Haus statt.
© imago images/ZUMA Wire

Angesichts der israelischen Besatzungspolitik war es in der Vergangenheit noch schwer gewesen, eine solche Kehrtwende in der arabischen Welt zu rechtfertigen. Doch die Welt und die Region haben sich im vergangenen Jahrzehnt radikal verändert. Auch das Schicksal der Kurden in der Region, die vom Westen unterstützt und dann wieder fallen gelassen wurden, machte deutlich: Jeder ist auf sich allein gestellt. Dann doch bitte mit den besten Waffensystemen im Arsenal.

Diese Kehrtwende haben nicht nur die Palästinenser verdrängt, sondern auch die Europäer, die ja seit 1967 den Palästinensern verbal unter die Arme zu greifen versuchen. Daher steht nicht nur das palästinensische Volk, sondern auch die EU auf der Verliererseite, während Trump und Netanjahu ihren Erfolg feiern.

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Netanjahu rühmt sich, mit der Zeremonie im Weißen Haus vergangene Woche einen weiteren Eckstein der traditionellen Nahostpolitik beseitigt zu haben, nämlich: „Um Frieden zu schaffen müssen Gebiete auf- oder zurückgegeben werden.“ Netanjahus alternativer Slogan lautet „Peace für peace“, also Friedensverträge mit arabischen Staaten ohne palästinensisches Territorium räumen zu müssen. In einer von Netanjahus Likud-Partei veröffentlichten Zeitungsannonce wird sogar dem früheren ikonischen Likud-Chef Menahem Begin vorgeworfen, dass er im Gegenzug für den Frieden mit Ägypten auf die eroberte Sinai-Halbinsel verzichtet hatte.

Anders als zwischen Ägypten und Israel gibt es zwischen den Emiraten, Bahrain und Israel keine gemeinsame Grenze und keinen Streit um Territorien. Und doch hat auch der neue Vertrag einen territorialen Aspekt. Als Gegenleistung für die Friedensbereitschaft der Emirate hat sich Israel verpflichtet, auf die geplante Annexion palästinensischer Gebiete zunächst zu verzichten.

Nun darf der nächste Schritt folgen: Denn gerade die Normalisierung der Beziehungen der Golfstaaten zu Israel und die Suspendierung der angedrohten Annexion kann zur Rettung der totgesagten Zweistaaten-Lösung beitragen.

Israel würde seine Demokratie gefährden

Und diese ist dringlicher denn je. Denn es ist eine gefährliche Illusion zu glauben, die Palästinenser-Frage sei ad acta gelegt. Dem Glauben geben sich auch viele Israelis hin, weil es derzeit so scheint, als wolle sich die arabische Welt von ihrer historischen Aufgabe befreien, sich um die Lösung der Palästina-Frage zu bemühen - und diese Aufgabe allein Israel überlassen. Doch die Palästinenser lösen sich nicht in Luft auf. Und kommt eine Zweistaaten-Lösung nicht zustande, hat Israel ein Problem.

Denn die Gleichberechtigung der Palästinenser gehört nicht zu Netanjahus Plan. Das bedeutet, entweder verbleiben alle Palästinenser ohne Bürgerrechte unter israelischer Herrschaft, oder es gibt eine Bantustanisierung der palästinensischen Enklaven. Beides ist mit einem demokratischen System nicht vereinbar.

Israel würde also mit der Zerstörung der freiheitlichen Demokratie sowie dem Verzicht auf den jüdischen „Charakter“ des Staates bezahlen. Das wird Trump egal sein, aber für Israel, das sich als Demokratie und Judenstaat identifiziert, wäre es eine Katastrophe. Hier ist auch die EU gefordert, auf die Kontrahenten einzuwirken und die jüngste Entwicklung als Chance zu nutzen, um als „ehrlicher Makler“ sowohl Israel als auch den Palästinensern aus der Klemme zu helfen.

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