Israel, seine Nachbarn und Europa: Der neue Nahe Osten – warum der arabische Nationalismus schwindet
Nach den Vereinigten Arabischen Emiraten hat auch Bahrain diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Ahmad Mansour erklärt die Hintergründe. Ein Gastbeitrag
Ahmad Mansour ist ein deutsch-israelischer Psychologe und Autor. Die von ihm gegründete Initiative Mind Prevention realisiert Projekte zur Förderung der Demokratie, gegen Extremismus, religiösen Fundamentalismus, Antisemitismus und Unterdrückung im Namen der Ehre. Zu diesen Themen hat der Islamismus-Experte mehrere Bestseller geschrieben, darunter „Klartext zur Integration“ (2018) und „Generation Allah“ (2015).
Wann immer es um den Nahen Osten geht, sind schlechte Nachrichten über Kriege und schwelende Konflikte in den westlichen Medien die Norm. Positive Entwicklungen sorgen weitaus weniger für Schlagzeilen. So ergeht es auch den diplomatischen Bemühungen um einen dauerhaften Frieden in der Region. Doch einige dieser Bemühungen verdienen aktuell durchaus Beachtung.
Die jüngste Geschichte des Nahen Ostens zeigt: Das einzig Stabile in der Region ist die Instabilität. Sie scheint der verlässliche Faktor aller Entwicklungen. Zu beobachten ist eine gigantische Verschiebung von Machtzentren. Das Schwinden alter und das Entstehen neuer Ideologien sowie die Auferstehung alter politischer Bewegungen scheinen die Region unberechenbar zu machen.
Die Verträge zwischen Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Isreal sind eine Sensation
Lediglich eine Konstante schien vom Wandel unberührt: Von Beginn an war Israel der erklärte Feind der arabischen Staaten. Doch nun erscheinen plötzlich neue Konstellationen am Himmel über Nahost, die noch vor einigen Jahren nahezu unmöglich schienen. Unlängst haben die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrain einen Friedensvertrag mit dem einstigen „Todfeind“ Israel geschlossen. Das ist sensationell – doch das Hoffnungszeichen wird kaum genug gefeiert. Nach einem halben Jahrhundert der Fehden zwischen den Emiraten und Israel wirkt diese Dynamik mehr als überraschend. Bei Lichte betrachtet ist sie freilich eine klare Konsequenz des Wandels im Neuen Nahen Osten. Wie kann das sein?
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Umbrüche entstehen bekanntlich nicht über Nacht. Auch hier ist der Wandel das Resultat zahlreicher Prozesse, die ihren Ausgang im 20. Jahrhundert nahmen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges teilten die Siegermächte Frankreich und Großbritannien das Osmanische Reich unter sich auf und schufen die ersten Nationalstaaten im Nahen Osten. In Europa war das Konzept des „Nationbuilding“ schon bekannt, nun sollte es auf das Morgenland übertragen werden.
Nach dem Erlangen der Unabhängigkeit Mitte des vergangenen Jahrhunderts standen die arabischen Länder dann vor zwei großen Herausforderungen: Sie mussten der Bevölkerung eine neue Identität anbieten und den neuen Feind Israel, dessen Staat 1948 gegründet wurde, in die Enge drängen und besiegen.
Jahrzehntelang dominierte der panarabische Nationalismus den Nahen Osten
Eine einigende Erzählung bot die panarabische Vision. Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser trieb die Ideologie eines gesamtarabischen Nationalismus mit glühendem Eifer voran. Das Besondere daran: Es war der erste Versuch in der modernen Geschichte der Region, die Identität der Bevölkerungen durch Sprache zu definieren – das Arabische – und nicht wie gewohnt durch die Religion, den Islam. Inspiriert von weltweiten sozialen und sozialistischen Bewegungen, war der panarabische Nationalismus in erster Linie eine säkulare Bewegung, der Versuch einer umfassenden Reform des politischen Denkens.
Doch nicht nur die gemeinsame Sprache verband die arabischen Länder – trotz zunehmender nationalistischer Tendenzen. Aus der Psychologie weiß man: Gemeinsame Feindbilder stärken die Verbundenheit - der Feind meines Feindes ist mein Freund. Die gemeinsame Abneigung konzentrierte sich auf Israel und brachte den arabischen Staaten eine kurze Blütezeit der arabischen Eintracht. Rückblickend betrachte war es jedoch ein großer Fehler, diese Einigkeit von einem Feindbild und einem militärischen Sieg abhängig zu machen. 1967 erlitten die Araber im Sechstagekrieg mit Israel eine herbe Niederlage. Der kleine David konnte gegen Goliath gewinnen? Eine Blamage. Und mit dieser Blamage begann das Sterben der panarabischen Idee.
Nach dem Arabischen Frühling fielen viele arabische Staaten in Clan-Denken zurück
Der Sieg über Israel hätte Wohlstand, Bildung, Fortschritt und Freiheit bringen sollen. Doch dieser Traum schien zerplatzt. Es entstand ein politisches Vakuum, das wie ein Sog wirkte für andere Ideologien, die nur darauf lauerten, sich als Alternativen zum demokratischen Panarabismus anzubieten: Islamisten und Autokraten erstarkten.
Während der Islamismus darauf abzielte, mit alten und neuen radikalislamischen Narrativen das gekränkte Selbstwertgefühl zu stärken und „Der Islam ist die Lösung!“ rief, suchten Oligarchen und Clans die Bedeutung der Nationalstaaten in Sinn ihrer Regime zu interpretieren und zu stärken. Statt der panarabischen Einigung galt von da an bis heute das destruktive Prinzip: „Unser Nationalstaat zuerst!“
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Genau diese Konstruktion der egoitären Autokraten bekommt mittlerweile Risse. Die Regime beginnen zu schwanken, und die Gesellschaften vollziehen enorme Wandlungen. Der gescheiterte Arabische Frühling, oder besser gesagt: der arabische Winter, hat vielerorts eine Rückkehr zu traditionellen Vorstellungen eingeläutet. Wenn ich mich auf den Staat nicht verlassen kann, so die Logik, dann doch auf die Familie, den Clan.
Trotz der Bemühungen eines ganzen Jahrhunderts gilt die tiefste Loyalität der Bevölkerung letztlich nicht den konstruierten Nationalstaaten, sondern den Gruppen, mit denen sie sich religiös oder ethnisch identifizieren. Zu sehen ist das in Libyen, in Syrien, im Irak, im Libanon, im Jemen und teils in der Türkei: Gesellschaften drohen, sich in rivalisierende Gruppen aufzulösen, in Sunniten, Alewiten, Schiiten, Kurden und andere mehr.
Viele Golfstaaten fühlen sich bedrängt: Erdogan will ein Neuosmanisches Großreich, der Iran die schiitische Expansion
So kommt es, dass viele der künstlich erzeugten Nationalstaaten im Nahen Osten buchstäblich um ihr Überleben kämpfen. Im Zentrum dieses Kampf stehen die widersprüchlichen Interessen der vier großen Mächte im Nahen Osten, die um die Herrschaft streiten. Neue wie alte Player machen von sich reden.
Erstens die Muslimbrüder, angeführt vom Nato-Mitglied Türkei mit Erdogan an der Spitze. Sie träumen davon, ein Großosmanisches Reich wiederzubeleben. Unterstützt werden sie von islamistischen Oppositionsgruppen in arabischen Ländern und von Katar als Partner.
Zweitens gibt es die Dschihadisten, Religionskrieger mit Terrororganisationen wie Al-Qaida und den Überbleibseln des Islamischen Staats (IS). Ihre Retro-Fantasie ist ein militärisches Kalifat des ursprünglichen Lebens wie zu Zeiten des Propheten Mohammed vor 1500 Jahren. Mit dem Wiederherstellen der „alten Weltordnung“ erhoffen sie eine neue Blütezeit Arabiens. Das ist freilich nichts als eine Illusion.
Drittens spielt der Iran eine Rolle, der sich um eine schiitische Expansion nach Syrien, Jemen, Libanon und Irak bemüht. Viertens fordern sunnitische Regimes ihr Recht, darunter Jordanien, Saudi-Arabien, Ägypten, die Länder des Maghreb und die Golfstaaten. Sie versuchen schlichtweg, sich in diesem Chaos irgendwie zu behaupten.
Je mehr sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen, desto klarer wird vielen Staaten: Israel ist Teil der Lösung
Just hier liegt der Grund für das Friedensabkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Was wie ein Novum anmutet, reiht sich in Wahrheit ein in eine Kette historischer Ereignisse. Im Abstand von jeweils etwa 15 Jahren hat seit 1979 ein arabisches Land Israel zum Verbündeten erklärt. Angefangen hatte Ägypten, es folgte Jordanien, nun sind es die Emirate. An ihrer Seite haben sie sunnitisch-arabische Nationen wie die Anrainerstaaten des Persischen Golfs, Bahrain und Oman. Immer mehr sunnitisch geprägte Staaten begreifen, dass ihre Existenz nicht von Israel bedroht ist, sondern vor allem vom Iran, den Muslimbrüdern und den Dominanzplänen des neuen „Sultans“ Erdogan. Zunehmend werden die querulantischen Palästinenser für die sunnitische Allianz gegen den Iran zur Last. Aus ethischer Sicht wird die Allianz von der muslimischen Gemeinschaft aufgefordert, sich solidarisch mit den Palästinensern zu zeigen. Aber aus politischer Sicht stört dieser Solidaritätsdruck die Allianz mit Israel, die vor einem immer aggressiver agierenden Iran schützen soll, der nach der Atombombe strebt. Dafür braucht es Verbündete. Je mehr die USA sich aus dem Nahen Osten zurückziehen, angefangen mit Obama und weitergeführt von der „Trumpolin“-Politik des amtierenden Präsidenten, desto klarer wird vielen arabischen Staaten, dass Israel nicht der Feind, sondern Teil der Lösung ist.
Egal, was man über Trump denkt: Jede Initiative für Frieden im Nahen Osten ist zu begrüßen
Jede Initiative für Frieden im Nahen Osten ist zu begrüßen. Zum kürzlich geschlossenen Abkommen zwischen Israel, den Emiraten und jüngst auch Bahrain haben die USA maßgeblich beigetragen, und das ist, wie sehr man Trump auch kritisieren muss, ein echter Fortschritt. Will der Westen aber dazu beitragen, dass sich die Region langfristig stabilisiert, muss er seine eigene Rolle analysieren und die darin liegende Verantwortung erkennen. Doch „das Abendland“ hat „das Morgenland“ nie wirklich verstanden, seit Jahrhunderten nicht.
Unwissen über Kultur, Mentalität, Werte und Glauben, gepaart mit Wunschdenken und latenter bis offener Arroganz brachten wenig mehr hervor als Bevormundung, oft mit katastrophalen Folgen.
Einst kreierten westliche Mächte einen Nahen Osten nach ihren Vorstellungen. Heute kann sich Europa keine Ignoranz mehr leisten. Ignoranz hat heute nicht mehr nur im ach so fernen Nahen Osten ein Nachspiel, sondern auch vor der eigenen Haustür – denn die globalisierte Welt lebt von ununterbrochenen Wechselwirkungen. Außenpolitik ist immer auch Weltinnenpolitik. Nur wenn der Westen den Nahen Osten besser versteht, kann er dessen Dynamiken abschätzen, neue Wege der Problemlösung suchen und die Früchte einer Friedenspolitik ernten.
Europa kann es nicht egal sein, was im Nahen Osten passiert
Globalisierung erzeugt einen Boomerang-Effekt: Was man aussendet kommt zurück. Misslingt die Stabilisierung im Nahen Osten, fehlt es den Menschen – speziell der Jugend – an Perspektiven, dann werden sie anderswo ihr Glück suchen, vor allem im reichen Europa. Und bleiben ihre Länder unaufgeklärt, rückständig, dann bringen viele der jungen Leute weiter gefährliches Gepäck mit: Islamistische Ideologien, patriarchale Misogynie, Hass auf Juden und Israel.
Auf allen Seiten ist Einsatz gefordert: Für eine gelungene Zukunft müssen sich die Menschen im Nahen Osten von Teilen der tradierten Kultur verabschieden.
Die Region braucht Reformen und einen Aufbruch zur Mündigkeit. Die Hinwendung zu Israel, dem einzigen demokratischen Rechtsstaat in der Region ist dafür ein erster, äußerst wichtiger Schritt.
Europa hingegen braucht einen realistischen Blick auf den Nahen Osten. Nur wenn der Westen die Region besser versteht, dann kann er die arabischen Staaten begleiten und unterstützen. Nicht mit der Haltung eines Oberlehrers, sondern als Verbündeter, der die Sorgen und Bedürfnisse kennt und hilft, Auswege zu suchen. Nur so kann es nachhaltigen Wandel zu Stabilität und Demokratie im Nahen Osten geben.