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Palästinenser beim Gebet im Jordantal während eines Protests gegen die Pläne Israels, Teile des Westjordanlandes zu annektieren.
© dpa

Philosophischer Versuch über Israels Zukunft: Zwei Staaten sind auch keine Lösung

Kein naiver Träumer: Der israelische Philosoph Omri Boehm entwirft die Utopie einer binationalen Föderation zwischen Juden und Arabern.

Eine schöne Zukunft ist es, die Omri Boehm sich für Israel erhofft: eine liberale Demokratie, die ihre Bürger, Juden und Araber, gleichberechtigt miteinander teilen. In der Juden ihre Schoah und Araber ihre Nakba, das große Trauma ihrer Vertreibung im Jahr 1948, hinter sich lassen. Ein Staat, in dem beide Seiten das Unglück des Anderen verinnerlichen und als gemeinsames Erbe auf sich nehmen.

Diese Zeilen sind nicht ironisch gemeint, und Boehm ist kein naiver Träumer. Im Gegenteil: 1979 in Israel geboren und dort aufgewachsen, ist er heute Philosophieprofessor an der New Yorker New School of Social Research. Ein Kant-Experte, der die Ideale der Aufklärung auch gegen alle unaufgeklärte Politik verteidigt, die heute in Israel und anderswo betrieben wird.

Boehm richtet einen philosophischen Blick auf die verfahrene Situation seines Landes, doch zugleich liest sich sein Buch wie die Kolumne eines versierten Kommentators in der israelischen Tagespresse. Er kennt nicht nur das jüngst erlassene Nationalstaatsgesetz, er kennt auch die Namen der beiden Parlamentarier, die es formuliert haben, um die staatsbürgerlichen Rechte israelischer Araber einzuschränken. 

Israel kann nicht „jüdisch“ und „demokratisch“ sein

Und er weiß, dass die Autoren dieses antiliberalen Gesetzes als Vertreter einer scheinbar liberalen Partei in der Knesset sitzen.

Boehm kennt die Maskenspiele der israelischen Politik, aber sie schrecken ihn nicht ab. Denn wichtiger als diese Manöver ist ihm die Zukunft des Landes, die lange schon – so seine These – von zwei Lügen überschattet wird: dass ein Staat zugleich „jüdisch“ und „demokratisch“ sein kann; und dass der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern sein Ende in der sogenannten „Zweistaatenlösung“ finden wird.

Als „jüdischer“ Staat, so Boehm, kann Israel nie demokratisch, sondern nur ethnokratisch sein. Hier lebt kein einzelnes Volk in einer Demokratie, sondern hier leben zwei Völker, Juden und Araber. Die Juden aber haben sich eine Vorzugsstellung verschafft und sind die herrschende Ethnie. 

Die andere Lüge, die Zweistaatenlösung, wird seit 1967 unterhöhlt. Mit der israelischen Besatzung des Westjordanlandes und seiner systematischen Infiltrierung durch die Siedlerbewegung ist der Raum für einen palästinensischen Staat unwiderruflich verloren gegangen.

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Deshalb bleibt als einzige Möglichkeit eine binationale Föderation. In ihr leben zwei voneinander unabhängige Autonomien – die eine jüdisch, die andere arabisch – nicht nur neben-, sondern auch ineinander. Juden und Araber lassen sich nach freier Wahl überall nieder, in Ramallah oder Tel Aviv, in Beerschewa oder Bethlehem.

Politisch organisieren sie sich autonom und getrennt voneinander; der Staat jedoch, in dem sie sich zusammenschließen, hat eine gemeinsame Hauptstadt: Westjerusalem für die Juden, Ostjerusalem für die Palästinenser. 

Das klinge zwar utopisch, schreibt Omri Boehm, aber es scheint ihm „praktischer und realitätsnäher, als krampfhaft an dem Glauben festzuhalten, Israel würde jemals Hunderttausende Siedler umquartieren“.

Boehms Stärke liegt weniger in seiner politischen Voraussicht als in seiner intellektuellen Ehrlichkeit. Er scheut sich nicht, heilige Kühe zu schlachten, die Israels schrumpfende Linke nie anzutasten wagte. Einen Autor wie den 2018 verstorbenen Amos Oz zum Beispiel liest er sehr kritisch und zeigt, wie er dazu beigetragen hat, die längst illusionäre „Zweistaatenlösung“ am Leben zu erhalten. 

Auch Hannah Arendt und Theodor Herzl befürworteten eine binationale Föderation

Überraschend ist das Material, mit dem Boehm nachweist, dass das Modell einer binationalen Föderation von Juden und Arabern einst zu den Grundgedanken des klassischen Zionismus gehörte. Erst der Rechtsruck der letzten Jahrzehnte hat es aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt.

Nicht nur eine Denkerin wie Hannah Arendt oder die Intellektuellen der Hebräischen Universität haben es befürwortet, sondern schon Theodor Herzl, David Ben-Gurion und Se’ev Jabotinsky, der geistige Vater des heutigen Likud. 

Sein Schüler, der einstige Ministerpräsident Menachem Begin, schrieb es im Zuge der Friedensverhandlungen mit Ägypten in einem detaillierten Autonomievorschlag für die Palästinenser fest. Das ist heute unbekannt, und Boehm druckt den Text vollständig ab.

Vor dem naiven Glauben, dass eine jüdisch-arabische Föderation doch noch möglich sei, ist allerdings zu warnen. Boehms Buch muss als philosophischer Versuch über Israels Zukunft gelesen werden, und der ist etwas einseitig geraten. 

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Boehm geht vom universalistischen Menschenbild der Aufklärung aus, im Nahen Osten aber stehen sich die Partikularisten des Monotheismus gegenüber. Sowohl die Juden in den besetzten Gebieten als auch die Muslime ringsum glauben, Gott für sich gepachtet zu haben, und dieses Problem ist mit Immanuel Kant nicht zu lösen.

Das weiß auch Omri Boehm. Er nennt sein Buch eine Utopie und bezieht sich damit auf den Gründer des Zionismus: Theodor Herzl. Auch er hatte für seinen Judenstaat ein binationales Gefüge im Sinn, und kurz vor seinem Tod, als die Kämpfe um die Bewegung ihn schon geschwächt hatten, malte er diese Vision noch einmal aus.

Herzl schrieb den utopischen Roman „Altneuland“ (1902), schilderte darin eine jüdisch-arabische Gemeinschaft und stellte sie unter das Motto: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“ So, noch immer unerfüllt, lauten auch die letzten Worte von Omri Boehms Buch.
[Omri Boehm: Israel – eine Utopie. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen Verlag, Berlin 2020. 256 Seiten, 20 €.]

Jakob Hessing

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