Alleinregierung Tayyip Erdoğans: Die Ohnmacht Deutschlands gegenüber der Türkei
Das deutsch-türkische Verhältnis hat Besonderheiten. Das engt den außenpolitischen Handlungsspielraum im Umgang mit der Türkei ein. Ein Kommentar.
Die Verhaftung von dreizehn Mitarbeitern der säkularen türkischen Zeitung Cumhuriyet hat in der deutschen Öffentlichkeit erneut Forderungen nach entschiedenerem Protest der Bundesregierung laut werden lassen. Auf die darauffolgende Kritik der Bundeskanzlerin hat Staatspräsident Tayyip Erdoğan Deutschland wieder einmal frontal angegriffen. Die deutsch-türkischen Beziehungen befinden sich in einer kontinuierlichen Abwärtsbewegung, ohne dass damit für die Erhaltung der Demokratie in der Türkei irgendetwas erreicht worden wäre. Es ist an der Zeit, innezuhalten und sich die Situation in beiden Ländern zu vergegenwärtigen.
In keinem anderen Land der Welt finden politische Entwicklungen in der Türkei eine so große gesellschaftliche Resonanz wie in der Bundesrepublik. Fünfzig Jahre türkische Migration nach Deutschland und eine enge wirtschaftliche Verflechtung der beiden Länder haben zur Entstehung eines großen transstaatlichen, deutsch-türkischen öffentlichen Raums geführt, in dem eine Fülle gesellschaftlicher Akteure ihre Stimmen (oft gegeneinander) erheben und politischen Druck aufbauen. Mehr noch, für die deutsche Gesellschaft spielen die Türken und die Türkei in vielen Fragen die Rolle des "signifikanten Anderen" – im positiven wie im negativen Sinne. Diskussionen zu Leitkultur und Multikulturalismus, zur Rolle der Religion in der Gesellschaft und zu Mehrsprachigkeit, zur doppelten Staatsbürgerschaft und zu der Frage, was Deutschsein heute heißt, sind ohne die türkische Migration nicht zu denken. Als Resultat findet sich in der deutschen Gesellschaft – was die Türkei betrifft – eine einzigartige und oft in sich widersprüchliche Kombination aus Wohlinformiertheit, scheinbarer Überlegenheit und Verantwortungsgefühl.
Dieses beispiellose gesellschaftliche Potential führt freilich nicht dazu, dass Berlin besonderen Einfluss auf Ankara gewänne. Eher ist das Gegenteil der Fall. Wie etwa an der Resolution des Bundestages zum Genozid an den Armeniern deutlich geworden ist, schränkt diese außergewöhnliche innenpolitische Dynamik den außenpolitischen Handlungsspielraum ein. Die Flüchtlingskrise spitzt diese Lage weiter zu. Als Hauptziel des Flüchtlingsstroms sieht sich die Bundesrepublik stärker von der Türkei abhängig als alle anderen Staaten in Europa und legt deshalb besonderen Wert auf Zusammenarbeit. Doch aus Sicht von Teilen der deutschen und europäischen Öffentlichkeit muss Berlin gerade deshalb in Ankara besonders hart auftreten. Gefordert wird die Quadratur des Kreises.
Mit der Radikalisierung der AKP endet die kemalistische Republik
Derweil ist die Türkei dabei, ein gänzlich anderes Land zu werden. Unter der Regie ihres Staatspräsidenten radikalisiert die alleinregierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) in der Innen- und Außenpolitik allwöchentlich ihr Vorgehen. Wir erleben das Ende der kemalistischen Republik, wie wir sie kennen.
Der Polizeiüberfall auf die Zeitung Cumhuriyet ist ein Frontalangriff der Regierung auf die Oppositionsführerin im Parlament, die säkulare Republikanische Volkspartei (CHP), deren Sprachrohr die Zeitung ist. Nach der Marginalisierung der prokurdischen Partei und der Beseitigung der Gülen-Bewegung nimmt diese sich nun mit der CHP die letzte von ihr unabhängige politische Kraft zur Brust.
In Bezug auf Rechtsstaatlichkeit dokumentiert die Aktion einen neuen Tiefpunkt. Kadri Gürsel und Aydın Engin, den prominentesten Journalisten unter den dreizehn verhafteten Mitarbeitern der Zeitung, wird die Verbreitung "unterschwelliger Botschaften" zur Last gelegt. Artikel, die sie vor dem Putschversuch verfassten, seien dazu angetan gewesen, den Leser für den Putsch einzunehmen, unterschwellig, ohne dass er sich dessen bewusst werden konnte. So reicht ab jetzt das, was der Staatsanwalt in einen Text oder eine Äußerung hineinlesen will, für Festnahme, Verhaftung auf unbestimmte Zeit und Kontaktsperre.
Cumhuriyet ist die bedeutendste der drei noch verblieben oppositionellen Tageszeitungen. Bereits vor dem Putsch befanden sich sieben der zehn auflagenstärksten nationalen Tageszeitungen und ebenfalls sieben der zehn populärsten Fernsehkanäle im Besitz regierungsnaher Holdings. Um den Staatsrundfunk steht es nicht besser. Er ist nach der Entlassung von vierhundert Mitarbeitern vollständig von möglichen Abweichlern "gesäubert".
Unterdessen geht der Umbau des parlamentarischen Systems zur Alleinregierung Tayyip Erdoğans zügig voran. Letzte Woche wurden Einzelheiten der von der AKP geplanten Verfassungsänderung bekannt. Demnach wird der Staatspräsident künftig nicht nur Regierungschef und Oberbefehlshaber des Militärs sein, der "bei Gefahr im Verzug" das Land alleine in den Krieg führen kann. Er wird auch die Hälfte der Richter des Verfassungsgerichts und der anderen hohen Gerichte bestimmen, außerdem den Generalstaatsanwalt und die Rektoren aller Universitäten. Ihm wird das Recht zur Auflösung des Parlaments, zur Ausrufung des Ausnahmezustandes und zum Erlass von Notverordnungen eingeräumt. Er beruft seine Minister von außerhalb des Parlaments und entledigt sich auf diese Weise jeglichen Einflusses seiner eigenen Partei auf die Regierungsführung.
AKP wird mit rechts-radikaler Partei MHP kooperieren
Um die Verfassungsänderung im Parlament auf den Weg zu bringen, wird die AKP mit der rechts-radikalen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) kooperieren. Grundlage der Zusammenarbeit ist ein Minimalkonsens, der vorsieht, den Krieg gegen die PKK im eigenen Land fortzuführen; eine neue Verhandlungsrunde soll es nicht geben. Die Todesstrafe wird eingeführt. Die Militäroperation in Syrien zur Verhinderung eines kurdischen Korridors wird fortgesetzt. Im Irak wird eine Pufferzone geschaffen, die Fluchtbewegungen aus Mossul in die Türkei verhindern, aber auch schiitische und kurdische Milizen von der türkischen Grenze fernhalten soll.
Außenpolitisch ist das Denken und Handeln der Regierung mittlerweile ganz von der Annahme bestimmt, die Hauptbedrohung für die Einheit der Türkei bestehe in der Politik der USA, die in Syrien die Kurden bewaffne. Im Irak mache sie mit der schiitischen Regierung und dem Iran gegen die Sunniten und die türkischen Sicherheitsinteressen gemeinsame Sache, und in der Türkei selbst stecke sie hinter dem Putschversuch der Gülenisten.
Was heißt all das für das deutsch-türkische Verhältnis? Wohl dies: Eine Türkei, die mit der Einführung der Todesstrafe den Bruch mit Europa und mit einer Intervention im Irak die weitere Verschärfung des Konflikts mit den USA in Kauf nimmt, ist ein zu großer Happen für die deutsche Außenpolitik. Stellungnahmen Berlins allein haben keinen positiven Einfluss auf die türkische Politik. Anstatt sich von der öffentlichen Meinung in Schaukämpfe mit Erdoğan und Ankara drängen zu lassen, sollte Berlin daher den Schulterschluss mit seinen europäischen und transatlantischen Partnern suchen. Nur vereint kann der Westen hoffen, noch Einfluss auf die Türkei zu nehmen.
Dr. Günter Seufert forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu türkischer Innen- und Außenpolitik. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik Kurz gesagt.
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