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Die frühere FDP-Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ist seit Ende 2018 auch Antisemitismusbeauftragte NRW.
© Sebastian Gollnow/dpa

Von Stephan B. bis Attila Hildmann: Die neuen Antisemiten wollen gesehen werden

Sie posaunen ihre Ansichten heraus, wollen Publikum. Der Hass auf Juden wagt sich aus der Verborgenheit heraus. Das erfordert neues Handeln. Ein Gastbeitrag.

Die FDP-Politikerin war Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Bundesjustizministerin und ist heute stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen.

Hans-Dieter Weber hat keinen einfachen Job. Als Pflichtverteidiger vertritt er im wohl aufsehenerregendsten Strafprozess des Jahres den Halle-Attentäter Stephan B. vor Gericht. In einem kurzen Statement erklärte Weber, sein Mandant sehe Kräfte am Werk, die im Verborgenen wirkten, aber sehr einflussreich seien und auf die Politik einwirken könnten.

Um welche Kräfte es sich dabei handelt, stellte der Angeklagte gleich zum Prozessauftakt klar: Juden lenkten Flüchtlingsströme direkt nach Deutschland, sie seien verantwortlich, dass Muslime ihn aus der Gesellschaft verdrängen. Eine Synagoge anzugreifen und möglichst viele Juden zu ermorden, ist in der kruden Logik des Stephan B. daher nur folgerichtig. Pflichtverteidiger Weber kommentierte: „In seinem Weltbild ist es halt so, dass er andere verantwortlich macht für seine eigene Misere und das ist letztendlich der Auslöser für dieses Handeln.“

Die Ansichten, Annahmen und Aussagen des Stephan B. erschrecken, aber sie überraschen leider nicht. Der Angriff auf eine Synagoge in Halle war nur der jüngste Ausschlag einer blutigen Spur antisemitischer Gewalttaten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Unvergessen bleibt der Mord am jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke in Erlangen, zu oft vergessen werden die unzähligen Brandanschläge auf Synagogen, jüdische Schulen, Kindergärten, Cafés und Friedhöfe überall im Land.

Das vergangene Jahr bildete in der jüngeren Geschichte des deutschen Antisemitismus einen Tiefpunkt: Mit mehr als 2000 erfassten Gewalttaten gegen Juden meldete das Bundesinnenministerium einen Höchstwert seit Beginn der statistischen Aufzeichnung vor etwa 20 Jahren. Wer angesichts dieser Zahlen noch warnt, „Wehret den Anfängen“, verkennt, dass es dafür viel zu spät ist.

Antisemitismus ist kein abstraktes Schreckgespenst, sondern bittere Realität im Alltag der etwa 94.000 in Deutschland lebenden Juden. Auf dem Schulhof, im Büro und im Seniorenheim sehen sich Juden aller Altersgruppen und Einkommensklassen mit latentem wie offenem Antisemitismus konfrontiert. Die Angst in jüdischen Gemeinden vor Übergriffen und sozialer Ausgrenzung wächst seit Jahren – und das aus berechtigten Gründen, wie der Anschlag in Halle gezeigt hat.

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In der Wortwahl, Argumentation und Logik ähneln die Aussagen des Halle-Attentäters denen des infamen Fernsehkochs Attila Hildmann, der zuletzt mit antisemitischen Äußerungen über Zionisten, die angeblich die deutsche Rasse auslöschen wollen, polizeiliche Ermittlungen auf sich zog. Hildmann wedelte bei einer Demonstration am vergangenen Wochenende mit einer Reichskriegsflagge aus den Jahren 1933-35 vor jubelnden Zuschauern und nannte Hitler „einen Segen im Vergleich zur Kommunistin Merkel“. Spielte sich Antisemitismus lange Zeit geächtet im Verborgenen ab, geht es den heutigen Antisemiten vor allem darum, gesehen zu werden.

So war es auch das erklärte Ziel von Stephan B., ein Zeichen zu setzen, dass antisemitische Attentäter in aller Welt nicht allein sind. Auch deshalb sei „die Aufnahme, die Übertragung wichtiger als die Tat selbst“ gewesen, wie der Attentäter selbst vor Gericht angab. Stephan B. ist in diesem Sinne kein wahnsinniger Einzeltäter, er ist Teil einer Reihe antisemitisch motivierter Straftäter, die sich mithilfe von Verschwörungsmythen in rechten Netzwerken radikalisiert haben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis weitere Menschen auch Hildmanns vom Wahnsinn durchzogene Thesen aufgreifen und die aus ihrer Sicht „logischen“ Konsequenzen daraus ziehen.

„Die Gaskammer ist nicht der Holocaust, der Holocaust endete dort“

Stephan B. hat seine Tat offen gestanden, er wird vor Gericht verurteilt werden. Gegen Atilla Hildmann ermittelt der Staatsschutz. Sie sind sichtbare Köpfe des gegenwärtigen Antisemitismus, gegen sie kann der Rechtsstaat präzise vorgehen. Doch Judenfeindlichkeit beginnt viel früher, in Sprüchen, Vorurteilen, Beleidigungen – in den Worten der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch: „Die Gaskammer ist nicht der Holocaust, der Holocaust endete dort.“

An dieser Prämisse muss der Kampf gegen den Antisemitismus ansetzen. Konzepte gibt es viele, finanziell ausgestattet und umgesetzt werden zu wenige. Seit Jahren fordern Politiker, Aktivisten und Betroffene, Projekte und Initiativen im Bereich der Prävention und Intervention zu stärken, die nicht nur auf wenige Monate oder Jahre befristet sind.

Dazu gehört auch die nachträgliche und thematische Aufarbeitung der Geschichte des Antisemitismus in allen Ausbildungs- und Fortbildungsplänen, der Besuch eines Konzentrationslagers als fester Bestandteil der Schulausbildung und der Beamtenlaufbahn sowie ein verstärkter gesellschaftlicher und beruflicher Austausch mit Israel. Die Einrichtung staatlich finanzierter Anlaufstellen und Expertengruppen, die ein wirksames Monitoring etablieren, mit dem präventiv gegen antisemitische Entwicklungen vorgegangen werden kann, ist ebenso zwingend wie überfällig.

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Schließlich – und das sollte eigentlich selbstverständlich sein – müssen die Strafverfolgungsbehörden mit der erforderlichen Sensibilität und den notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet sein, um auch Straftaten wie Beleidigungen nachzugehen. Der Sonderbeauftragte der US-Regierung für Antisemitismus, Elan Carr, regte in diesem Zusammenhang an, antisemitische Straftäter mit einer vergleichsweise geringen Schwere der Tat zu verpflichten, eine Gedenkstätte, ein Museum, oder eine Aufklärungsveranstaltung zu besuchen. Dazu gehört auch, direkte Begegnungen mit Menschen jüdischen und muslimischen Glaubens zu ermöglichen.

Der Staat allein wird das Problem jedoch nicht lösen können – auch ein Rechtsstaat ist nicht vollkommen. Umso wichtiger ist es, dass wir alle unsere gesellschaftlichen Werte jeden Tag aufs Neue verteidigen. Die Freiheit des Glaubens ist im Grundgesetz als unverletzlich definiert.

Diese Freiheit zu verteidigen ist die Aufgabe eines jeden von uns. Im kommenden Jahr feiern wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und doch sprechen Antisemiten wie Stephan B. und Attila Hildmann Juden noch immer ihr Existenzrecht in Deutschland ab. Zeigen wir ihnen, wie falsch sie damit liegen.

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