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Stephan Balliet wird in Hand- und Fußfessel ins Gericht gebracht.
© dpa

Prozessauftakt zum Anschlag von Halle: „Hätte ich das nicht gemacht, hätten mich alle ausgelacht“

Stephan Balliet bereut vor Gericht wenig. Mittäter hatte er wohl keine. Mit seinem antisemitischen Wahn ist er aber nicht allein.

Mit Sturmhauben maskierte Beamte treten aus einer Seitentür in den Saal, die Männer, allesamt in Schutzwesten, postieren sich um den Tisch, der für den Angeklagten reserviert ist – sofort hören die 200 Wartenden im Saal C 24 mit dem Geraune auf. Nun eskortieren Beamte in Kampfmontur den an Händen und Füßen gefesselten Angeklagten zum Platz. Minutenlang prasselt Blitzlicht auf Stephan Balliet ein. Pandemiebedingt trägt der Angeklagte – wie die meisten anderen im Saal – einen Nasen-Mund-Schutz. Sein an Regungen armes Gesicht wirkt so vollends statisch.

Zwei Stunden haben Nebenkläger, Angehörige, Anwälte, Wachtmeister, Übersetzer, Sachverständige, Journalisten im Magdeburger Landgericht warten müssen, nun eröffnet Ursula Mertens, die den Prozess führt, verspätet die Verhandlung. Balliet werden die Handschellen abgenommen – die Fußfesseln bleiben.

Neun Monate nach dem Attentat von Halle muss er sich seit Dienstag vor einem Staatsschutzsenat verantworten: Zweifacher Mord, vielfacher Mordversuch, räuberische Erpressung, gefährliche Körperverletzung, Volksverhetzung – der Bundesanwalt liest fast 40 Minuten die Anklage vor. Es ist der bedeutendste Prozess in Sachsen-Anhalt seit der Existenz des Bundeslandes, verhandelt wird über einen der schlimmsten Akte antisemitischen Terrors der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Schmächtig wirkt Balliet zwischen seinen Verteidigern, seine Stimme heiser, seine Antworten entrückt: Es geht um Juden, Muslime, Schwarze, Meinungsfreiheit, Diktatur, Internet, Waffen und Verfassungsschützer – dabei wollte die Vorsitzende zunächst nur wissen, wie sich die Jugend des Angeklagten gestaltet habe.

Ein, das bestreitet im Saal kaum jemand, trauriges Leben schildert der Angeklagte, zumindest kein glückliches, auf eine potenziell frohe Zukunft gerichtetes Leben. Ein Leben, in dem Balliet aus allerlei Ideologiefragmenten, Halbwissen, Sorgen jenen antisemitischen Wahn entwickelte, der ihn am 9. Oktober 2019 auf einen Mordzug führte.

Wenn es um ihn selbst geht, bleibt Balliet knapp, zuweilen wird er pampig. Schullaufbahn? „Unauffällig.“ Hatten sie Freunde? „Nein.“ Sein abgebrochenes Studium, die Krankheit damals? „Sie haben die Daten doch.“ Waren sie in einem Verein, hatten sie Interessen? „Internet.“

Und die Familie? „Hat damit nichts zu tun.“ Wäre gut, sagt die Vorsitzende, wenn er doch bitte in ganzen Sätzen antworte, sie verstehe ihn dann besser. Mertens insistiert, Balliet auch: Sein Privatleben spielte bei der Tat demnach keine Rolle.

Als Kind gehänselt, wegen der „geringen sozialen Stellung“, wie er sagt. Als Jugendlicher ohne Freundin, auch ohne Freund, die Eltern trennten sich. Als Bundeswehrsoldat immer noch allein. Als Chemiestudent erkrankt, Rückzug zur Mutter nach Benndorf, bei Eisleben gelegen, 40 Kilometer von Halle entfernt.

Als Dauernutzer diverser Internetforen bahnt sich nie ein Kontakt an, der zu einem Treffen im analogen Leben hätte führen können. Von sich selbst spricht Balliet wie von einem Verlierer: ohne Freunde lebte er weitgehend allein in seinem Kinderzimmer der mütterlichen Wohnung in der mitteldeutschen Provinz. Die Welt – Quell ständiger Besorgnis, zunehmender Wut.

Schon in den ersten Stunden in Saal C 24 gibt Balliet die Tat im Wesentlichen zu – auch, dass er Jana L., 40, aus Halle tötete. „Hätte ich das nicht gemacht, hätten mich alle ausgelacht“, sagt er, seine Taten waren live im Internet zu sehen. Die Frau habe ihn angeschnauzt, wenn er nicht geschossen hätte, dann hätte es geheißen, „dass ein dummer Kommentar reicht, um einen Rechten zu stoppen“.

Auch dass er Kevin S., 20, aus Merseburg in einem Döner-Lokal tötete. S., der als Maler arbeitete und als Fan des Halleschen FC zu fast allen Spielen ging. Eigentlich wollte Balliet, das gestand er in Verhören durch das Bundeskriminalamt in unverhohlener Ehrlichkeit, möglichst viele Juden ermorden. Dass dies nicht gelang, hat jedenfalls nicht mit fehlendem Vernichtungswillen zu tun.

Balliet sah sich auf einer Mission. Sein Attentat filmte der Mann mit einer Helmkamera. Warum, fragt die Vorsitzende, ihm das Live-Übertragen so wichtig war? „Man selbst kann nur wenig erreichen, selbst wenn man effizient arbeitet. Aber man kann andere erreichen, die kämpfen wollen.“ Andere? „Weiße Männer.“ So wie in Christchurch, Neuseeland, im März 2019, als 50 muslimische Einwanderer von einem australischen Rechtsextremen getötet wurden. Da habe sich ein Weißer gewehrt. „Und ihm ist auch egal, was die anderen über ihn sagen.“

Er habe sich wegen des Zuzugs von Migranten nach Deutschland ausrüsten wollen, damals im Krisensommer 2015, als er beschlossen hatte, dieser Gesellschaft nichts mehr geben zu wollen. „Weil ich kein sozialer Mensch bin, habe ich auch keine Kontakte zu Kriminellen, kann mich also nicht auf dem Schwarzmarkt bedienen.“

Im Internet findet er Anleitungen, die Werkzeuge kamen aus der Laube des verstorbenen Großvaters – Balliet baute in drei Jahren acht Waffen. „Die Juden sind die Organisatoren 2015 gewesen.“ Mit seiner Toleranz führe das Christentum dazu, dass die Massen einwanderten. Warum er keine Moschee, sondern eine Synagoge angegriffen habe? „Es ist ein Unterschied, Symptom oder Ursache zu bekämpfen.“

Als heimliche Verursacher realer oder vermeintlicher Widrigkeiten betrachten Männer und Frauen ziemlich ungleicher Milieus "die Juden" - selbst Balliet bezeichnet sich explizit nicht als Neonazi. In einer repräsentativen Umfrage der Anti-Defamation-League aus dem Jahr 2015 zeigten 16 Prozent der befragten Bundesbürger antisemitische Neigungen - und das sind diejenigen, die ihren Wahn nicht verstecken. Das Bundeskriminalamt registrierte 2019 bundesweit 1839 antisemitische Delikte, 2018 waren es 1799 Taten. Dabei wurden vergangenes Jahr 72 antisemitische Gewalttaten gezählt.

Bedauern? Also „Weiße“ habe er nicht töten wollen. Ärgerlich sei, das sein Plan nicht klappte, sagt Balliet, er sehe sich nun schon als „Versager“, der sich „global lächerlich gemacht“ habe.

Die Tat ist weitgehend ausermittelt, wie das Juristen nennen. Am 9. Oktober 2019 versuchte Balliet, in die Synagoge im Paulusviertel in Halle einzudringen. Mehr als 50 Gläubige feierten dort Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag. Das Tor zur Synagoge blieb zu, Schüsse reichten nicht, 1,7 Kilogramm Aluminiumsprengstoff zündeten nicht, anderenfalls wäre „die Tür zerrissen“ worden, wie Balliet inzwischen auskunftsfreudig erklärt.

Überhaupt redet er immer dann in ganzen Sätzen, fast ein wenig erregt, wenn es um Waffen, Technik, Chemikalien geht.

Die Richterin lässt sich den Hergang nochmals genau schildern: Vor der Synagoge kommt Jana L. vorbei – sie hat, so scheint es auf dem Tatvideo, das Attentat gar nicht als solches erkannt. Jedenfalls motzt sie Balliet an, warum er herumknalle. „Es tut mir sehr leid, dass ich sie erschossen habe“, sagt der auf Nachfrage der Richterin. Aber sie habe eben den Angriff gestört.

Warum er mehrfach auf Jana L. schoss? „Zur Sicherheit.“ Balliet raste in einem Mietwagen davon, stoppte an einem Döner-Lokal, schoss dort um sich, Ladehemmungen verhinderten offenbar, dass es mehr Tote gab. Dann lieferte er sich ein Gefecht mit anrückenden Beamten und schoss auf der Flucht ein Paar nieder, um ein Auto zu rauben. Bei Zeitz, etwa 60 Kilometer südlich von Halle gelegen, rammte er einen Lastwagen und wurde festgenommen.

„Ich bin schon lange im Strafrecht tätig“, sagt Richterin Mertens zur Eröffnung. „Ein Verfahren mit so vielen Beteiligten hatte ich noch nicht.“ Für den Prozess sind 147 Zeugen benannt, darunter 68 Polizisten. Zugelassen sind 43 Nebenkläger und ihre 21 Anwälte: Betroffene aus der Synagoge und dem Döner-Lokal, dazu jene, die Balliet auf seiner Flucht angegriffen hatte. Die Verhandlung wird auf Englisch, Russisch, Polnisch und Türkisch übersetzt. Sie wurde in die Landeshauptstadt verlegt, weil der Platz im für Halle zuständigen Oberlandesgericht Naumburg nicht ausgereicht hätte.

Schon auf dem Weg zum Gerichtsgebäude erzeugt Balliet viel Aufwand. Aus der Haftanstalt in Burg wird er per Hubschrauber nach Magdeburg gebracht, der auf einer Wiese landet. Ein Spezialeinsatzkommando bringt Balliet, der über dem T-Shirt eine schusssichere Weste trägt, zum Landgericht.

Kann ein Gericht die Toten sühnen? Kann ein Prozess das Leid heilen, die Wut der Hinterbliebenen lindern? Können fünf Richter den virulenten Antisemitismus dieser Tage aburteilen, zähmen? Ein Sprecher des Gerichts erklärt noch vor Prozessbeginn: „Und dennoch wird das Verfahren wahrscheinlich nicht alle Erwartungen erfüllen können, die von den Hinterbliebenen, den Geschädigten und der Öffentlichkeit möglicherweise gehegt werden.“

Ein rechtsextremes Netzwerk ist nicht zu erkennen, Kontakte zu anderen Verschwörungsideologen hatte Balliet offenbar nur virtuell.

Er selbst gehöre zum unteren Rand der Gesellschaft,sagt er, massenhafte Einwanderung führe dazu, dass jemand wie er aus der Gesellschaft falle. Die Vorsitzende reagiert brüsk: Ob er nicht ohnehin aus der Gesellschaft gefallen sei? Hätte er sich nicht doch Freunde, Bekannte gewünscht? „Ja“, sagt Balliet leise. Warum er sich dann nicht politischen Zirkeln angeschlossen habe? „Weil die alle vom Verfassungsschutz unterwandert sind.“

In Saal C 24 sitzt auch Norbert Leygraf. Der bekannte Psychiater ist mit dem in solchen Fällen üblichen Gutachten betraut worden, er hat an drei Tagen mit Balliet gesprochen und ihm eine komplexe Persönlichkeitsstörung mit autistischen Zügen attestiert. Balliets Schuldfähigkeit sei nicht beeinträchtigt gewesen. Verschwörungstheorien und Waffen, so lesen sich die 100 Seiten Gutachten grob vereinfacht, haben sein Leben bestimmt. Selbst nach einer Therapie sei wahrscheinlich, dass Balliet erneut schwere Straftaten begehen würde.

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