Wie soll der Osten gefördert werden?: Die neue Landlust
Warum Ost-Regierungschefs und Kommunalverbände die Forderung ablehnen, zwischen Rügen und Vogtland nur noch urbane Räume zu fördern.
Wie steht der Osten Deutschlands nun da 30 Jahre nach dem Mauerfall? Gar nicht so schlecht, schaut man auf eine Europakarte. Demnach gehören die fünf Länder zu einer großen Gruppe von EU-Regionen, die zwar eine unterdurchschnittliche Wirtschaftskraft haben (gemessen an der gesamten EU). Genauer gesagt: Sie liegen zwischen 75 und 100 Prozent und damit auf dem Niveau fast ganz Frankreichs oder Finnlands. In Osteuropa fallen nur das westliche Polen und Tschechien sowie Litauen in diese Kategorie. Sachsen, Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern liegen weit vor den wirtschaftlich tatsächlich schwachen Regionen wie Süd-Italien, Süd-Spanien, Griechenland, Portugal, aber auch Wales oder Teile Nord-Englands.
Nur sind diese EU-Regionen für ostdeutsche Politiker nicht der Maßstab. Sie schauen in den Westen der eigenen Republik und sehen vor allem eines: Im innerdeutschen Vergleich sind sie weiterhin deutlich zurück, abgesehen von den zwei eher strukturschwachen Gegenden im nördlichen Niedersachsen und der Eifel. Und natürlich gibt es innerhalb des Ostens noch deutliche Binnendifferenzen – die Städte, voran Potsdam, Dresden und die Region Leipzig-Halle stehen deutlich besser da als die ländlichen Ecken. Daher sehen sich die ostdeutschen Landesregierungen vor einer doppelten Aufgabe: Aufholen zum Westen, für mehr Ausgleich sorgen daheim. Die gewachsenen Unterschiede zwischen den Stadtregionen und dem Land beschäftigen die Politik bis hinauf ins Bundeskabinett neuerdings ohnehin stärker. Bisher weitgehend unbeachtet, weil eher im Stillen zugange, kümmert sich die von der schwarz-roten Koalition eingesetzte "Kommission gleichwertige Lebensverhältnisse" unter anderem genau darum: Wie kann man verhindern, dass ländliche Regionen weiter zurückfallen?
Ausgerechnet aus Halle
So ist es kein Wunder, dass ein Papier aus (ausgerechnet) Halle derzeit für massive Aufregung vor allem in den ostdeutschen Staatskanzleien sorgt. Das Hallenser Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) mit seinem streitbaren Chef Reint Gropp hat aus einer Analyse der wirtschaftlichen Situation im Osten dreißig Jahre nach dem Mauerfall einige brisante Folgerungen gezogen: weniger Förderung für Arbeitsplatzerhalt, mehr Steuergeld in Produktivitätssteigerung und Dienstleistungsbranchen und vor allem: weniger Geld in ländliche Regionen, mehr Förderungen für urbane Räume, die Wachstum bringen. Das aber ist eine Art Torpedo, gerichtet gegen ein Projekt, das vor allem die Ost-Ministerpräsidenten betreiben, mit dem gesamten Bundesrat im Rücken und mit Unterstützung einiger einflussreicher Verbände der Kommunen und des Mittelstands: Industrie- und Handelskammertag, Zentralverband des Handwerks, Landkreistag, Städte- und Gemeindebund. Sie haben sich in einem Aktionsbündnis „Leben auf dem Land“ zusammengetan und setzen vor allem auf Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), insgeheim aber wohl auch auf Innenminister Horst Seehofer (CSU), der ja die Stärkung der Heimat zu einem seiner Ziele erklärt hat. Ein Hauptziel des Aktionsbündnisses ist der Ausbau der bestehenden „Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz“.
Neues Bund-Länder-Programm
Die ist eines der großen Bund-Länder-Förderprogramme für ländliche Regionen mit einem Volumen von derzeit 1,5 Milliarden Euro im Jahr. Nun soll sie deutlich ausgebaut werden, weit über den bisherigen Zuschnitt vor allem auf landwirtschaftliche Förderung hinaus. Der Grundgesetzartikel 91a, in dem diese Gemeinschaftsaufgabe verankert ist, soll nach dem Wunsch der Länder um den Passus „ländliche Entwicklung“ erweitert werden. Das hat der Bundesrat schon im Juli 2018 beschlossen, doch gelang es bisher nicht, Bundesregierung und Bundestag für eine Änderung des Artikels zu gewinnen. Dem Vernehmen nach können sich bisher weder das Kanzleramt noch das Bundesfinanzministerium mit der Ausweitung der Förderung anfreunden, zumal nicht absehbar ist, wie teuer die Beschlüsse der „Kommission gleichwertige Lebensverhältnisse“ insgesamt werden. Der größte Geldbrocken in diesem Projekt könnte eine milliardenschwere Altschuldenhilfe des Bundes für überschuldete Kommunen werden. Zudem steht die Überlegung im Raum, dass der Bund die Kosten der Unterkunft für Arme weitgehend übernimmt. Von beidem würden westdeutsche Länder deutlich stärker profitieren.
"Ländliche Entwicklung"
Daher machen nun die ostdeutschen Regierungen und die interessierten Verbände noch mehr Druck für die Milliardenhilfe für ländliche Räume. Die Wirtschaft dort könnte so breiter gefördert werden als bisher, weil die Einschränkung auf die „Agrarstruktur“ wegfiele. Die Rahmenbedingungen für die Bekämpfung struktureller Schwächen auf dem Land könnten damit „stark verbessert werden“, gibt der Magdeburger Ministerpräsident Reiner Haseloff zu bedenken. Da die ostdeutschen Länder EU-weit nicht mehr zu den ganz schwachen Regionen zählen und der Brexit die Verhältnisse nochmals verschiebt, müssen sie ab 2021 mit deutlichweniger Fördermitteln aus Brüssel rechnen. Das soll zum Teil über den Bundesetat ausgeglichen werden, indem per Verfassungsänderung eine flexiblere Unterstützung der ländlichen Regionen möglich wird. Dass der Umweltausschuss des Bundesrats gerne noch den „Erhalt der Kulturlandschaft und der biologischen Vielfalt“ als Förderkriterium in den Artikel 91a geschrieben hätte, macht deutlich, wie weit eine Grundgesetzänderung führen könnte, für die man Stimmen der Grünen braucht.
Nicht Stadt gegen Land
Die Studie des Hallenser Wirtschaftsinstituts wirkt daher wie ein Stoppsignal für solche Wünsche aus der Wissenschaft. Aber die Befürworter einer stärkeren Förderung ländlicher Räume wollen sich nicht abschrecken lassen. Sie müsse kommen, „um fortan Impulse auch außerhalb der Landwirtschaft breiter und wirksamer unterstützen zu können und ländliche Räume als attraktive Orte für Unternehmen und Fachkräfte zu stärken“, fordert das Aktionsbündnis der Verbände. Folge man dem Vorschlag der Forscher aus Halle, würden insbesondere Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg „nahezu vollkommen“ von der Wirtschaftsförderung abgekoppelt. Man dürfe daher Stadt und Land nicht gegeneinander ausspielen. „Beides muss zusammen gedacht werden.“
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